Tagebuch eines Weltenwanderers
Tagebuch eines Weltenwanderers

Rappu - Quantengott und Nulliversum

Rappu ist die einzige Jungenfigur von Bedeutung in Konyas vornehmlich weiblich geprägtem Kosmos. Obwohl sich Konya und Rappu nie richtig anfreunden, ist Konya von Rappu fasziniert: Rappu stellt einerseits als „Nerd“ und Superhirn auch eine Art Freak dar, ist aber im Gegensatz zu Konya in sich völlig integer und jederzeit Herr der Lage, wie es scheint. Andererseits ist er einTyp Mensch, den er ernst nehmen muss, obwohl er dessen Ansichten überhaupt nicht teilt. Rappus Argumentation gegen die religiöse und vor allem gegen die katholische Art der Welterklärung und dem daraus resultierenden Menschenbild sind in sich stichhaltig und kaum widerlegbar. Selbst die erfahrene Religionslehrerin Frau Pechstein hat seinen Argumenten außer Dogmen nichts entgegenzusetzen und kapituliert im Disput mit ihm vor der Klasse. Durch Rappu wird Konya klar, dass sich Religionen nicht „beweisen“ lassen, ja, nicht einmal mit Vernunft begründbar sind. Deshalb zieht er sich auf das Gefühl zurück, um seinem Glauben ein Fundament zu geben, und beruft sich dabei vor allem auf die Liebe. Dass er sich damit auf einen ebenso schwankenden Boden begibt, wird ihm sehr bald klar, als Sen ihn am Nasenring seiner rein auf das Sinnliche ausgerichteten Liebe ernsthaft in die Bredouille bringt.

Rappu versucht dann Konyas - seiner Meinung nach hoffnungslos obsoletem - religiösem Weltbild eine tragfähige wissenschaftliche Grundlage zu geben. Sein „Quantenuniversum“ ist  keineswegs seine Erfindung – schon so namhafte Physiker wie Wolfgang Pauli, David Bohm und Werner Heisenberg haben darüber spekuliert. Nach dieser auf der Quantenphysik aufbauenden Theorie wäre alles als Information zu begreifen, die sich überlichtschnell austauscht und im Prinzip überall gleichzeitig ist. Diese Information als das göttliche Schöpfungsprinzip zu begreifen, liegt nahe, doch Konya kann sich mit diesem „unpersönlichen“ Gott nicht anfreunden. Erst später – bei seiner Himmelsvision -  wird er verstehen, dass das eine das andere nicht ausschließt und das es verschiedene gleichrangige Aspekte der Wirklichkeit gibt.  

Rappu im Roman

 

Kapitel 13   Rappu kommt

 

Dann kam Rappu.

Rappu kam mitten unterm Schuljahr in unsere Klasse. Und aus irgendeinem Grund platzte er

am Vormittag in den Unterricht.

Wir hatten gerade Deutsch bei Herrn Lämmert, unserem Klassenlehrer.

Es klopfte also mitten in der Stunde, was ja eigentlich eher selten vorkam, und wir alle sahen von unserer Stillarbeit auf.

„Herein!“, rief Herr Lämmert.

Die Tür öffnete sich und ein Wägelchen erschien, so eine Art zweirädriger Kofferkuli. Auf ihm befanden sich eine Kiste Mineralwasser, ein Aktenkoffer, der exakt die Maße der Flaschenkiste hatte, ein Laptop der Marke Apple und oben drauf, fein säuberlich gestapelt, mehrere Tupperboxen, die wahrscheinlich den Brotzeitvorrat für die nächsten drei Wochen enthielten.

Der Kofferkuli eierte auf quietschenden Rädchen herein, und hintennach stapfte sein Besitzer. Hatte schon der seltsame Gepäckwagen Belustigung in der Klasse ausgelöst, so brach die Klasse beim Anblick des Jungen, der ihn schob, in schallendes Gelächter aus.

Ich weiß nicht, ob ihr den Coverboy des Satiremagazins „MAD“ kennt. Daddy hatte mal einen ganzen Karton mit Exemplaren der amerikanischen Ausgabe von „MAD“ auf einem Flohmarkt erstanden, und auf diese Weise wurde auch ich ein Fan von Alfred E. Neuman mit seinem Motto „What, me worry?“. Jedenfalls sah dieser Knabe in seinem karierten Tweed-Anzug, den er wahrscheinlich Sherlock Holmes persönlich abgeknöpft hatte, mit seinen roten Haaren, den abstehenden Ohren und der von Sommersprossen übersäten Sattelnase diesem Alfred E. Neuman verblüffend ähnlich. Das Einzige, was einen an den Nerd denken ließ, den er in Wirklichkeit verkörperte, war die überdimensionale Brille, die seine Augen ungefähr um das Fünffache größer scheinen ließ, und die ihm durch den klobigen schwarzen Rahmen den Touch eines Secret-Service-Agenten aus der Zeit der 60er-Jahre gab. Kurz gesagt, er sah auf eine komische Art zum Fürchten aus.

Und dieser Junge stapfte mit seinem Wägelchen jetzt nach vorn und baute sich vor Herrn Lämmert auf.

„Bin ich hier richtig in der 9 a?“, fragte er mit einer lauten und leicht quäkenden Stimme, die mich gleich an Bugs Bunny denken ließ.

„Ja, sicher“, sagte Herr Lämmert und schaute den Neuankömmling belustigt und etwas von oben herab an, was Rappu sehr wohl registrierte. „Was bringst du uns denn da in deinem Wägelchen? Die Mittagsverpflegung?“

Die Klasse lachte, aber auch Rappu behielt sein Grinsen.

„Sie sind Herr Lämmert, nicht wahr?“

„Ja, der bin ich“, antwortete Herr Lämmert mit der gleichen Überheblichkeit in der Stimme wie schon vorhin.

„Beginnt Ihr Vorname zufällig mit „B“, Herr Lämmert?“

Obwohl der Witz mindestens so alt war wie Herr Lämmert, brauchte die Klasse eine Weile, bis sie ihn kapierte, aber dann war das Gelächter auf Rappus Seite.

Herr Lämmert tat so, als hätte er die Anspielung nicht verstanden.

„Nein, mit „O“. Ich heiße Otto. Darf ich nun deinen Namen wissen?“

„Dürfen Sie“, krähte Rappu. „Ich heiße Raphael Radulovic Pugelfug. Pugelfug am Ende mit „g“, nicht mit „ck“, wenn ich bitten darf. Sie können mich aber auch „Rappu“ nennen, wenn Sie wollen.“

„Na gut, Rappu, was führt dich zu uns?“

„Artikel 36 des Schulgesetzes, wonach in Deutschland jeder Heranwachsende im Alter von sechs bis mindestens fünfzehn Jahren seiner Schulpflicht in Form von regelmäßigem Unterrichtsbesuch an staatlichen oder staatlich anerkannten Schulen nachkommen muss.“

Herr Lämmert blieb auch diesmal ganz cool.

„Soll das heißen, du gehst nicht gern zur Schule, Rappu?“

„Verzeihen Sie, Herr Lämmert, aber ich möchte die Aussage dazu aus Befangenheitsgründen verweigern.“

„Hm“, machte Herr Lämmert und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Darf ich wenigstens erfahren, wo du deiner Schulpflicht bisher nachgekommen bist?“

„Sängerstadt-Gymnasium in Finsterwalde, Landkreis Elbe-Elster, Niederlausitz.“

„Aha. Aus dem finsteren Walde, also“, witzelte Herr Lämmert, dürfte es aber gleich bereut haben, denn Rappu bleckte die Zähne und stieß ein keckerndes Lachen aus, das ein bisschen an das Blöken eines Schafes erinnerte, was einen erneuten Lachsturm der Klasse zur Folge hatte.

„Ich bin die Stimme der Vernunft, das Licht der Aufklärung und der Weg aus der Finsternis“, belehrte er Herrn Lämmert, „also bezeichnen Sie mich bitte nicht als Hinterwäldler!“

„Verzeihung, Raphael Radolfowitsch!“, entschuldigte sich Herr Lämmert mit leicht ironischem Unterton, wurde aber gleich von Rappu gemaßregelt.

Radulovic! Diesen Namen habe ich zum Andenken an meinen Urgroßvater aus dem ehemaligen Ostpreußen erhalten und ich bitte ihn in Ehren zu halten!“

„Aber selbstverständlich, Raphael Radulovic!“, korrigierte sich Herr Lämmert. „Ich sehe, wir haben mit dir einen auch ethnologisch interessanten Neuzugang erhalten. Sei herzlich willkommen bei uns! Du kannst dich neben Konya setzen. Er wird dich sicher gerne mit den Gepflogenheiten an unserer Schule vertraut machen.“

 

Und so wurde Raphael Radulovic Pugelfug aus Finsterwalde für die nächsten zwei Monate mein Banknachbar. Solange dauerte es, bis die Lehrer übereinkamen, Rappu wegen seiner überdurchschnittlichen Begabung die Klasse überspringen zu lassen. Eigentlich hätten sie ihm auch gleich die Mittlere Reife oder das Abitur zuerkennen können, denn Rappu wusste mit seinen fünfzehn Jahren in vielen Fächern in manchen Dingen schon besser Bescheid als die unterrichtenden Lehrkräfte. Sein Apple-Laptop, der ihn praktisch überall hin begleitete, wurde zu seinem Markenzeichen als Fachidiot und Computerfreak. Wobei die Bezeichnung „Fachidiot“ eigentlich nicht ganz zutreffend für Rappu war, denn Rappu hatte zwar seine Spezialgebiete – nämlich Astronomie, Quantenphysik und Neurophysiologie –, aber er kannte sich fast überall gut aus und war nicht nur überdurchschnittlich begabt, Rappu war genial. Er war ein Nerd in Person. 

 

Rappu in Reli

 

Das einzige Fach, das ihn absolut nicht interessierte, war ausgerechnet das Fach, das ich unter allen Fächern noch am liebsten mochte. Rappu war erklärter Atheist. Das heißt, er glaubte nicht nur weder an Gott und alles was mit Religion zu tun hatte, er bekämpfte es auch. Dummerweise hatte seine Mutter vergessen ihn für Ethik anzumelden, und weil er getauft war, steckten sie ihn an unserer Schule erst mal in die Reliklasse. So kam es, dass der bekennende Atheist Rappu für eine Stunde den Religionsunterricht mit mir besuchen musste. Eine Stunde, die für die Klasse unvergesslich werden sollte. Und für Frau Pechstein, die wir dieses Jahr in Reli hatten.

Frau Pechstein war eine echte Hardlinerin, was Glaubensfragen anbetraf. Sie hätte ohne weiteres in den Retro-Clan im Vatikan gepasst, ohne Witze. Vielleicht war sie ja dort heimlich als Ghostwriter angestellt und Papst Benes Enzykliken stammten in Wirklichkeit von ihr.

Ich hatte zu Beginn des Schuljahres ein paar Versuche gemacht, ihren erzkonservativen Anschauungen etwas entgegenzuhalten, es dann aber bald aufgegeben. Frau Pechstein war stur wie ein Panzer und über alle Anfechtungen erhaben. Zumindest bis Rappu auf der Bildfläche erschien. Denn Rappu konnte sogar Panzer knacken, wie sich zeigen sollte.

 

In der Stunde, in der Rappu bei uns einsaß, ging es um das Thema Willensfreiheit bei Augustinus. Wir lasen im Relibuch Auszüge aus seinen „Bekenntnissen“, in denen der Hang des Men­schen zum Bösen als Folge des Sündenfalls von Adam und Eva im Paradies erklärt wurde -  eine Erklärung, die ja schon Frau Brodnig in ihrer Lehrprobe benutzt hatte. Augustinus war aber immerhin clever genug gewesen zu erkennen, worin der Grundwiderspruch dieser Erklärung liegt, nämlich darin, dass Gott als Allwissender bereits im Voraus wusste, worauf alles hinauslaufen würde.

„Wie sollen wir mit diesem Widerspruch umgehen?“, fragte Frau Pechstein.

„Gar nicht“, dachten sich wahrscheinlich die meisten in der Klasse, aber keiner äußerte sich. Auch ich hatte keine Lust, durch eine schlaue Bemerkung zum Anlass religiöser Belehrung von Seiten unserer Lehrerin zu werden.

Schließlich meldete sich Rappu.

„Der Widerspruch entsteht einzig und allein durch die Konzeption von Gott, die Ihrer Reli­gion zugrunde liegt, Frau Pechstein.“

Frau Pechstein, die keine Ahnung hatte, mit wem sie es zu tun hatte, forderte Rappu auf sich näher zu erklären. Rappu fuhr in aller Freundlichkeit fort, als würde er gerade einem Kind Nachhilfe geben:

„Die Vorstellung eines personalen Gottes ist, mit Verlaub, absurd. Wenn es denn überhaupt einen Gott gibt, was ich, mit Verlaub, bezweifle, so kann er nicht Teil seiner eigenen Schöpfung sein oder gar dem Menschen als etwas fast Gleichartiges gegenübertreten. Wenn es einen Gott gibt, dann ist er nicht in seiner Schöpfung – er ist sie. So, wie es ja auch die östlichen Religionen, nämlich der Hinduismus und der Buddhismus lehren.“

Frau Pechstein war die Kinnlade heruntergeklappt.

„Bist du etwa nicht getauft, Junge?“, fragte sie und blickte Rappu an, als hätte er die Beulenpest oder so was.

Rappu fühlte sich nun doch ein wenig herausgefordert.

„Getauft schon, aber ohne mein Einverständnis. Das ist ja auch so eine typisch christliche Masche, die allen menschenrechtlichen Auffassungen von Willensfreiheit zuwiderläuft. Die Kinder werden im Stadium absoluter Unmündigkeit einem Zwangsakt unterzogen und in eine Glaubensgemeinschaft quasi ohne ihre Zustimmung eingegliedert. Der Hintergedanke ist natürlich der, dass die meisten der so Zwangseingegliederten später zu faul sein werden, um diesen Akt rückgängig zu machen. Sehen Sie sich doch nur Ihre Klasse an, Frau Pechstein. Die meisten von Ihren Schülern haben das Denken über religiöse Dinge längst aufgegeben und äußern sich auch nicht mehr dazu. Sie sind im wahrsten Sinne entmündigt. “

Rappu pausierte. Die Klasse war nach seiner letzten Bemerkung immerhin aus ihrer Lethargie aufgewacht. Viele grinsten schadenfroh, weil es endlich mal jemand wagte, Frau Pechstein die Meinung zu sagen; ein paar klopften sogar mit den Fingerknöcheln Beifall. Und Frau Pechstein kochte, das sah man ihr an, aber sie riss sich vorerst noch zusammen, weil sie sich keine Blöße geben wollte.

„Du bist also getauft und glaubst nicht mehr an Gott. Was hat dich denn zum Abfall vom Glauben bewogen?“

Sie sagte wirklich „Abfall“, als handle es sich um eine Art Hochverrat.

„Darf ich Ihnen eine Gegenfrage stellen, Frau Pechstein?“, fragte Rappu.

„Bitte!“

„Warum glauben Sie an Gott?“

Frau Pechstein stutzte erst, fing sich aber schnell.

„Weil es ihn gibt.“

„Woher wollen Sie das wissen?“

„Weil…weil es das alles gibt. Das Weltall, die Erde, der Mensch – woher soll das sonst alles kommen?“

„Haben Sie schon mal was vom Urknall gehört?“

„Natürlich. Doch das ist eine wissenschaftliche Erklärung, die ich für unzureichend halte. Schließlich erklärt sie nicht den Grund für den Urknall und auch nicht, wie der Mensch entstand.“

„Wissen Sie, dass Sie damit im Widerspruch stehen zu dem, was an Ihrem Gymnasium in vielen Fächern gelehrt wird? Zum Beispiel von der kosmologischen Physik oder der Evolutionsbiologie?“

„Ja, das weiß ich.“

„Und wie gehen Sie damit um?“

„Gar nicht. Es interessiert mich nicht. Für mich ist der Glaube die entscheidende Instanz. Alles andere ist zweitrangig oder irritiert nur.“

„Sie blenden also die wissenschaftlichen Erklärungsmodelle zur Entstehung der Welt aus. Wissen Sie, dass Sie damit experimentell überprüfbare Befunde und damit die Realität ausblenden?“

„Für mich ist, wie gesagt, der Glaube die einzig wahrhafte Realität.“

„Und auf welcher Grundlage basiert ihr Glaube?“

„Auf dem der göttlichen Offenbarung, der Bibel.“

„Woher wissen Sie, dass diese über 2000 Jahre alten Offenbarungen wirklich von Gott sind?“

„Weil ich es glaube!“

„Sie glauben also, weil sie an etwas glauben, dass Ihrem Glauben entspringt. Das ist ein klassischer Zirkelschluss, Frau Pechstein. Ich ziehe Ihre Lehrbefähigung ernsthaft in Frage.“

Frau Pechstein sah sich in die Enge gedrängt und wusste nicht mehr weiter. Das war bei ihr noch nie vorgekommen. Und nun verlor sie komplett die Kontrolle über sich.

„Was erlaubst du dir?“, fuhr sie Rappu an und patschte wütend mit der Hand auf den Tisch. „Wer glaubst du eigentlich, wer du bist? Und wie redest du mit mir?“

„Ich bin Raphael Radulovic Pugelfug“, antwortete Rappu seelenruhig. „Und ich rede die ganze Zeit Deutsch mit Ihnen, Frau Pechstein.“

Die Klasse grölte, Frau Pechstein aber ballte die Fäuste.

„Du bist ein unverschämter Bengel!“, rief sie. „Dafür sollte ich dir einen Verweis erteilen!“

„Tun Sie, was Sie nicht lassen können, Frau Pechstein. Wahrscheinlich können Sie ohnehin nicht anders, zumindest wenn man Jean Calvin folgt. Diese einzig logische Erklärungsvariante zum Problem der menschlichen Willensfreiheit unter der Annahme eines allwissenden Gottes spricht dem Menschen nämlich jegliche Willensfreiheit ab. Nach der Prädestinationslehre ist der Mensch in seinem Tun festgelegt und von vorneherein von Gott entweder zum ewigen Leben oder zur ewigen Verdammnis vorherbestimmt.“

„Dann weiß ich, zu was du bestimmt bist!“, entfuhr es Frau Pechstein, doch sie merkte gleich, dass sie zu weit gegangen war, denn die Klasse pfiff sie aus.

Rappu hob beschwichtigend die Hände und das Pfeifkonzert verstummte.

„Ich nehme Ihnen das nicht einmal übel, Frau Pechstein, schon aus dem Grund, weil mich die ewige Verdammnis genauso kalt lässt wie Calvins Prädestinationslehre. Das sind täppische Versuche der Religionen, sich eine Weltordnung zusammenzureimen, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. Dass der Mensch in seinem Tun tatsächlich weitgehend determiniert ist, hat ganz andere Gründe. Neurobiologisch gesehen ist der Mensch deshalb in hohem Maß unfrei in seinen Willensentscheidungen, weil er dabei überwiegend vom unbewusst arbeitenden limbischen System und dem darin befindlichen emotionalen Erfahrungsgedächtnis gesteuert wird, wie es zum Beispiel die Experimente des amerikanischen Neurophysiologen Benjamin Libet zeigen. Aber solche evidenten Befunde der Naturwissenschaften werden von Ihrer Religion ja bekannterweise entweder nicht zur Kenntnis genommen oder bewusst ignoriert. Bis heute hat die Kirche zu diesem Problem keine vernünftige Lösung anzubieten. Aber viele Gläubige sind seither im Vertrauen auf die göttliche Gnade und ihren Glauben selbst dann enttäuscht worden, wenn sie gar keinen negativen Gebrauch von ihrer Willensfreiheit gemacht haben. Für meine Begriffe untergräbt die Religion – und damit meine ich in erster Linie die christliche – auf diese Weise die Voraussetzungen für eine vernünftige und selbstbestimmte Lebensführung der ihr anvertrauten Gläubigen.“  

Als Rappu geendet hatte, bekreuzigte sich Frau Pechstein und sagte dann nur:

„Der Antichrist weilt unter uns. Der Herr verleihe uns seinen Schutz und seine Stärke!“

Dann ließ sie uns im Relibuch weiterlesen.  Sie stellte keine einzige Frage mehr. Rappu aber war der Held der Stunde. Er hatte auf ganzer Linie gesiegt. Nur schade, dass Frau Pechstein umgehend seine Versetzung in Ethik veranlasste und uns damit für den Rest des Schuljahrs um einen wirklich interessanten Religionsunterricht brachte.

 

 

Kapitel 14 Gespräche mit Rappu  

 

Ungefähr zwei Wochen nach seinem Auftritt in der Relistunde bei Frau Pechstein lud mich Rappu zu sich nach Hause ein. Ich hatte keine Ahnung, warum. Vielleicht brauchte er einen Sparringpartner, den er beim Diskutieren fertig machen konnte. Wir hatten in den Pausen ein paarmal über mögliche Welterklärungstheorien gesprochen, aber ich wüsste nicht, dass ich irgendetwas Ernsthaftes beigesteuert hätte. Mein intuitives Gefühl, dass sich wissenschaftliche und religiöse Welterklärung nicht ausschließen müssten, sondern nur zwei verschiedene Betrachtungsebenen der gleichen Sache darstellten, wischte Rappu als Mystizismus und irrationale Weltverklitterung beiseite. Er ließ nur wissenschaftliche Fakten gelten. Widerspruch gegenüber Rappu wäre aber auch dann sinnlos gewesen, wenn ich die passenden Argumente gehabt hätte. Rappu nahm jeden auseinander, der sich ihm und seinem naturwissenschaftlich getrimmten Weltbild in die Quere stellte. Der Knabe hätte es beim Diskutieren locker mit Albert Einstein aufgenommen, wenn der noch lebte. Und er hätte ihn wohl über kurz oder lang zum Atheisten gemacht. Rappu hätte jeden zum Atheisten gemacht, wenn man ihm Zeit und Gelegenheit dazu gegeben hätte. Und im Moment war ich sein Opfer, obwohl ich mich gar nicht so fühlte. Im Gegenteil – ich hörte ihm gern zu. Atheisten hatten mich immer schon fasziniert. Obwohl ich ihre Weltsicht nicht teilte, fand ich sie total mutig. Sie kamen mir immer irgendwie vor wie Seiltänzer ohne doppelten Boden.

 

Ich sprach Rappu nochmal meine Anerkennung aus für die Show, die er in der Relistunde damals abgezogen hatte, meinte aber, dass die Religion dabei doch ein bisschen arg schlecht weggekommen sei, denn schließlich sei sie für viele Menschen doch Trost und Stütze.

„Siehst du, Raphael, das sag ich dir doch auch immer“, pflichtete Marian mir bei, während sie Salat auf der Anrichte schnippelte. „Du mit deiner Gottlosigkeit. Was richtest du da bloß für einen Flurschaden an bei den gläubigen Menschen!“

Rappu winkte den Einwurf seiner Mama mit einer lässigen Handbewegung ab.

„Lass gut sein, Mama. Ich bin schließlich provoziert worden. Und wer so wenig Glauben hat, dass er ihn wegen mir aufgeben muss, ist selber schuld. Vielleicht hat er ja sogar auf mich gewartet.“

„Ach du und deine Einbildung!“, schimpfte Marian. „Glaubst am Ende, du bist der Anti-Mes­sias höchstpersönlich. Dabei bist du noch gar nicht richtig trocken hinter den Ohren.“

Rappu lachte.

„Jesus hat den Schriftgelehrten schon mit zwölf Jahren die Leviten gelesen, Mama – und ich bin schließlich schon fünfzehn und kann auch schon ganz gut Spreu und Weizen unterscheiden.“

Er wandte sich mir zu.

„Aber Konya, sag mal ehrlich: Wieso glaubst du an Gott?“

„Ich? An Gott?“

Ich dachte an Frau Pechstein und wie sie von Rappu mit dieser Frage aufs Kreuz gelegt worden war. Ich fürchtete, mir würde es genauso gehen, was immer ich auch antwortete.

„Gibt es denn eine Alternative, als an Gott zu glauben?“, fragte ich schließlich. „Ich meine, was gewinnst du, wenn du es nicht tust?“

„Du glaubst also aus Verzweiflung?“

„So würde ich es nicht formulieren. Ich glaube, weil ich nicht glaube, dass etwas ohne Glauben Sinn macht.“  

Rappu lächelte.

„So so. Aber wer sagt denn, dass diese Welt Sinn machen muss?“

Wieder musste ich überlegen.

„Mein Gefühl.“

„Gefühl?“, fragte Rappu mit einem leicht spöttischen Unterton. „Du errichtest deine Weltanschauung auf Gefühlen? Ganz schön fahrlässig, junger Freund.“

„Wieso?“

„Weil Gefühle manipulierbar und unkontrollierbar sind. Ohne Steuerung durch die Vernunft bist du ihnen so hilflos ausgeliefert wie ein Schiff ohne Ruder der hohen See.“

Der Vergleich war einleuchtend und ich fühlte mich in die Enge getrieben. Wenn ich jetzt zugab, dass ich eine rationale Kontrolle brauchte, um meine Gefühle und damit meinen Glauben zu steuern, dann hatte mich Rappu da, wo er mich haben wollte – denn auch auf Vernunft war kein Glaube zu gründen, soviel war mir klar.

Ich dachte plötzlich an Jule und was mich immer noch mit ihr verband.

„Es gibt Gefühle, die uns leiten können.“

Konya lachte schadenfroh, als hätte er mich schon in der Falle.

„Gefühle? Uns leiten? Bist du noch bei Trost, Konya? Gefühle sind das Unbeständigste und Unberechenbarste, was es gibt! Auf Gefühle kannst du nicht vertrauen!“

Marian intervenierte.

„Jetzt mach mal die Gefühle nicht so runter, Raphael. Das Schönste im Leben sind doch nun mal Gefühle. Und mit deiner Vernunft allein kommst du auch nicht weiter. Guck doch bloß, wie weit sie uns gebracht hat.“

„Jedenfalls weiter als Gefühle wie Hass, Neid, Eifersucht und Gier, Mama.“

„Aber es gibt doch auch gute Gefühle“, widersprach Marian.

„Zum Beispiel?“

„Die Liebe“, sagte ich.

„Genau“, pflichtete Marian mir bei.  

Und dann sagte ich noch etwas. Etwas, das mir eben gerade in diesem Moment einfiel. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht, weil ich immer noch auf ein gutes Ende mit Jule hoffte.

„Und auf die Liebe kannst du vertrauen. Wahre Liebe ist unfehlbar. Sie hält ewig“

In genau diesem Moment kam Zoe-Chenoa in die Küche.

 

(…) 

Ich quatschte dann noch eine Weile mit Rappu, aber irgendwie konnte ich mich nicht mehr so richtig auf das Gespräch konzentrieren. Rappu wollte mir klarmachen, dass Religion psychologisch gesehen eine Projektion und eine verkappte Form des Selbstbetrugs war, weil die menschliche Psyche nötigenfalls auch Sinnvorstellungen kreiere, um sich besser zurechtzufinden und sich nicht alleingelassen zu fühlen. Und deshalb hätten die Menschen die Religionen und Gott erschaffen. Dabei sei Gott aber eine Erfindung, die sich bei näherem Hinsehen als total unlogisch entpuppe.

„Ich halte diesen Gott schlichtweg für nicht notwendig, Konya. Schau mal, es ist doch so: Wenn Gut und Böse sich aufheben auf der Welt, dann ist Gott die Null im Universum. Dann brauchen wir ihn gar nicht. Wenn Gut und Böse sich aber nicht aufheben und das Böse dominiert, dann ist Gott ein schlechter Rechner und des Teufels. Wenn aber das Gute am Ende siegt und alleine übrigbleibt, dann fehlt irgendwann die Spannung und alles endet in Langeweile. Du kannst dir jetzt selber aussuchen, in welchem Universum du leben willst. Ich jedenfalls plädiere für den Null-Gott. Der richtet wahrscheinlich am wenigsten Schaden an.“

Marian, die gerade hereinkam, um sich von mir zu verabschieden, lachte schallend über Rappus seltsames Multiversum.

„Pass nur auf, dass du nicht am Ende die Null im Universum bist, du kleiner Klugscheißer!“, sagte sie und fuhr ihrem Sohn dabei zärtlich durchs Haar, was sich der nur unwillig gefallen ließ. Dann gab sie mir die Hand und sagte:

„Komm bald wieder, Konya. Du bist immer willkommen bei uns!“

Rappu und der Quantengott

"Sunrise"

 

 Kapitel 16 

 

Zwei Wochen später lud Rappu mich erneut zu sich ein. Er sagte, er wollte mir eine Brücke bauen und meinen Glauben auf ein festeres Fundament stellen. Schließlich könne er mich nicht so hängen lassen wie bei meinem letzten Besuch.

Wir ließen uns im Wohnzimmer nieder, weil Rappu mir das „kreative Chaos“ in seiner Bude ersparen wollte. Ich war echt neugierig, was Rappu da mit mir vorhatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er sich in Glaubensdingen auch nur einen Millimeter auf mich zubewegte.

Rappu hatte auf der Basis der Quantenphysik eine Theorie ausgearbeitet, wie Gott funktionieren könnte – er sagte das wirklich so. Dazu erklärte er mir erst mal lang und breit einen Versuch, den sich ursprünglich Albert Einstein erdacht hatte, um die Quantenphysik zu widerlegen, nämlich das Einstein-Podolsky-Rosen-Experiment. Ich verstand nicht so richtig, wie es funktionierte, aber Rappu meinte, entscheidend sei, dass es funktionierte, und das sei bewiesen. Dieses Experiment wurde ein Rohrkrepierer für Einstein, denn es bestätigte nicht nur die Quantentheorie, sondern erschütterte auch Einsteins Relativitätstheorie, weil es überlichtschnelle Teilchen produzierte, die es eigentlich gar nicht geben durfte. Der Clou der Sache war, dass das Experiment einen wissenschaftlichen Beweis dafür lieferte, dass es etwas gab, was außerhalb jeder wissenschaftlichen Beschreibbarkeit lag. Rappu nannte es die nicht-lokale Realität – eine Wirklichkeit, die keinen Raum einnahm, aber trotzdem existierte.

Rappu versuchte eine Beschreibung: 

„In dieser Wirklichkeit ist alle Information überall und zu jeder Zeit verfügbar – alles ist wie durch überlichtschnelle Datenbahnen vernetzt, um es bildlich auszudrücken. Alles ist zu jeder Zeit überall und immer, verstehst du?“

Ich verstand vor allem nicht, worauf das alles hinauslaufen sollte.

„Wieso glaubst du, dass das dem Glauben eine Grundlage geben könnte?“, fragte ich.

„Mensch, checkst du es echt nicht?“, fragte Rappu zurück. „Das universelle Bewusstsein – das ist Gott!“

Jetzt kapierte ich gar nichts mehr.

„Gott als universelles Bewusstsein? Dann wären wir ja mit drin!“

„Klar doch, du Schnellspanner. Es wird Zeit, dass du dich von dem alten Mann mit Rauschebart verabschiedest. Gott ist ja schließlich nicht von gestern. Er besteht jetzt aus Bits und Bytes – aus Information, so wie wir.“

„Und das wärst du bereit zu glauben, Rappu?“, fragte ich ungläubig.

Rappu lachte.

„Naja, das steht auf einem anderen Blatt. Aber wie geht´s dir damit?“

Ich holte tief Luft. Rappu überforderte mich mit seinen Spekulationen etwas, so plausibel er sie auch darlegte. Schließlich war ich kein Einstein-Junior wie er.

„Ich weiß nicht, Rappu. Der Gedanke, dass irgendwie alles eins ist, leuchtet mir ein – er wird ja auch von den meisten Religionen vertreten. Aber dass dieses übernatürliche All-Bewusst­sein gleichzeitig Gott sein soll, damit habe ich meine Schwierigkeiten.“

„Aber wieso denn?“

Ich stelle ihn mir irgendwie anders vor.“

„Wie denn?“

„Persönlicher. Mehr wie jemand, mit dem man sprechen und zu dem man beten kann.“

„Das kannst du trotzdem. Du kannst doch genauso gut zum universellen Bewusstsein beten.“

Ich überlegte. Dann fiel mir ein, dass mein Bewusstsein ja ein Teil von dem Ganzen war.

„Das käme mir fast so vor, als würde ich zu mir selber beten.“

Rappu lachte.

„Was wäre denn so schlimm daran? Wir würden eben alle Gott in uns tragen. Ist doch ein wunder­barer Gedanke.“

„Bei manchen Leuten kann ich mir das nur schlecht vorstellen. Außerdem weiß ich immer noch nicht, wozu das Ganze gut sein soll.“  

„Wie bitte?“

„Ich meine, dieser Gott muss doch einen Grund gehabt haben, das alles zu machen – ob er nun in einem universellen Bewusstsein steckt oder nicht.“

Rappu stöhnte laut auf.

„O Mann! Jetzt kommst du mit einer Kinderfrage! „Mami, wieso hat der liebe Gott die Welt gemacht?“ Und Klein-Konya stellt sich wahrscheinlich vor, Gott tat es, damit Klein-Konya solche Fragen stellen kann und sich dabei wahrscheinlich wahnsinnig clever findet.“

„Gar nicht“, murrte ich.

„Na, warum denn sonst?“

„Das weiß ich eben nicht!“

Rappu seufzte genervt. Es kam eher selten vor, dass ihn jemand aus der Fassung brachte. 

„Mensch, Konya, jetzt mach doch mal halblang. Ich kann dir das Universum in Zahlen und Formeln ausdrücken und die Quersumme bilden, aber auf eine solche Frage gibt es keine Antwort, verstehst du? Einfach deshalb, weil sie total idiotisch ist!“

Es war tatsächlich idiotisch von mir, Rappu in den Big-Old-Daddy-Case reinzuziehen. Und mich überhaupt mit ihm auf religiöse Fragen einzulassen. Es war so, als wollte ich einem Tauben Beethovens Neunte in Blindensprache verdolmetschen. Rappu ging bei aller Intelligenz das ab, was einen Gottessucher ausmacht: die Phantasie. Sie reichte weit über das Berechenbare hinaus und führte einen in Gefilde, von denen Rappu nicht einmal zu träumen gewagt hätte, weil sie seinem Drang nach Berechenbarkeit von allem zuwiderliefen. Dabei war Rappu im Prinzip ein genauso hoffnungsloser Träumer wie ich, nur eben auf ganz andere Art als ich. Er träumte von einer Welt, die in allen ihren Teilen total berechenbar und damit kontrollierbar war. Rappu war ein Kontroll-Freak. Was er nicht kontrollieren konnte, das blendete er aus. Er ähnelte damit verblüffend seiner Kontrahentin Frau Pechstein, die auf andere Weise genau das Gleiche tat.

 

"Sunset", Foto Schreiber
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© Konya Koolmann