Tagebuch eines Weltenwanderers
Tagebuch eines Weltenwanderers

Der "Big-Old-Daddy-Case" oder die Theodizee-Frage

"Big Old Daddy" von Tamara

Big-Old-Daddy steht im Jargon der Vorhimmelbewohner für Gott, wie Konya bei dem Besuch seiner seligen Großmutter erfährt. Der Big-Old-Daddy-Case entwickelt sich für Konya aus der Geschichte von Adam und Eva, wo Eva von der Schlange verführt wird. Die Existenz dieser Schlange, die ja für den Teufel selbst steht, verweist auf ihren Schöpfer – den Schöpfer von allem – und damit auf Gott. Wenn aber Gott den Teufel geschaffen hat, der das Böse in die Welt bringt, dann ist Gott am Bösen beteiligt, so sehr man die Sache auch drehen und wenden mag. Das ist für Konya der „Fall Gottes“, der Big-Old-Daddy-Case.

Im Prinzip ähnelt das Problem der Theodizee-Frage, das als erstes von dem Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz formuliert wurde: Warum gibt es in einer von einem guten Gott geschaffenen Welt das Böse? Die Antwort der Kirchen ist uneindeutig. Zum Teil versuchen Theologen immer wieder, dem Teufel die Hauptschuld anzulasten, weil er nämlich in seiner Selbstüberhebung eine Rebellion gegen Gott angezettelt haben und damit selbst schuld an seinem Sündenfall sein soll. Doch wenn man Gott das Hauptattribut seiner Göttlichkeit – die Allwissenheit – nicht absprechen will, dann wusste Gott im Voraus, was sein Geschöpf Luzifer anrichten würde und ist damit also wieder in die Entstehung des Bösen involviert.

Ein anderer Rechtfertigungsversuch Gottes besteht darin, dem Menschen für die Entstehung des Bösen aufzubürden: Mit seiner Abkehr von Gott – der Erbsünde – habe er sich das Böse selbst eingebrockt, lautet die gängige Erklärung der Theologen. Der Einwand, dass Gott ja wissen habe müssen, dass sich seine Geschöpfe gegen ihn versündigen würden, wird mit dem Zusatz begegnet, Gott habe dem Menschen dafür einen freien Willen gegeben, mit dem er sich für oder gegen Gott entscheiden kann – somit selbst für das Böse, das er tut, verantwortlich.

Diese Erklärung ist – die Allwissenheit Gottes voraussetzend – sowohl unlogisch als auch unmenschlich. Unlogisch deshalb, weil ein allwissender Gott ja schon vorher weiß, was das Ergebnis sein wird. Unmenschlich deshalb, weil Gott die Menschen um den Preis der Willensfreiheit willen so vielem Leid aussetzt. Die Prädestinationslehre Calvins, die annimmt, die „Guten“ seien von Anfang an (also bereits wenn sie auf die Welt kommen) von Gott auserwählt, ist wenigstens vom Standpunkt Gottes aus logisch, dafür aber für die Mehrzahl der Nicht-Erwählten geradezu zynisch absurd.

Die besten Erklärungen dieses Problems sind immer noch diejenigen, die sich jeder rationalen Erklärung verweigern. Gott kann nicht rational erfasst werden – und das trifft auch für die Motive für die Erschaffung der Welt und des Menschen zu. Je mehr Konya sich der Lösung des Rätsels annähert, desto mehr begreift er, dass die Lösung als Mensch bestenfalls gefühlt, aber nie verstanden werden kann. Gefühlt in der Liebe, die Gott mit uns Menschen teilt.

In seinem „Traktat“, das seine Lehrerin Frau Brunner gegen Konyas Willen vor der ganzen Klasse verliest, kommt dieser Gedanke ebenfalls zum Ausdruck.

 

 

"Betende", Tonplastik von Schreiber

Der "Big-Old-Daddy-Case" im Roman

 

Kapitel 26  Das „Evangelium Konyadis“

 

Konya hat in seiner Nacharbeit bei Fräulein Brunner den „Big-Daddy-Case“ gelöst, die Frage, warum Gott die Welt geschaffen und darin das Böse zugelassen hat. Er rechnet aber nicht damit, dass Fräulein Brunner sein Traktat publik macht…

 

Die nächsten Tage fühlte ich mich wie von einer schweren Last befreit. Ich hatte etwas abgeladen. Es war ein Gefühl als schwebte ich.

Endlich war es draußen. Etwas, was ich immer schon in mir getragen hatte wie eine dumpfe Ahnung. Ich hatte es in die Welt gesetzt. Die Antwort auf die Frage aller Fragen. Der Big-Old-Daddy-Case war gelöst.

Das glaubte ich zumindest.

Mein Hochgefühl wurde noch dadurch verstärkt, dass ich wusste, J-lo würde es lesen. Sie würde meine Mitwisserin werden. Wir waren einander verschworen. Das Geheimnis würde uns enger aneinander binden als tausend Schwüre.

Natürlich musste ich mir eingestehen, dass sie das Spiel gewonnen hatte. Sie hatte mich geködert. Sie erschien mir mittlerweile sogar schon nachts im Schlaf. Aber irgendwie fand ich das gar nicht mehr so schlimm. Im Gegenteil. Wenn ich an J-lo dachte, überkam mich manchmal die seltsame Anwandlung in Form einer süßen Versuchung, wie ein Tropfen im Meer im Tiefblau ihrer Augen zu versinken.

 

Ich war total meschugge.

Es hatte mich wieder mal erwischt.

Verknallt in die eigene Lehrerin.

Der Stoff, aus dem Teenie-Soaps gemacht sind.

Es konnte nur als Flopp enden.

Und der Flopp bahnte sich schon in der übernächsten Relistunde an.

 

J-lo kam wie immer unter lautem Gestöckel ihrer High-Heels in die Klasse und patschte erstmal ihre Schultasche auf das Lehrerpult. Doch statt das Reli-Buch rauszukramen, entnahm sie ihrer Tasche einen Stapel lose Blätter. Die Augen aller Anwesenden weiteten sich entsetzt. So was hieß im Normalfall „Wir schreiben eine Ex“ - eine Stegreifaufgabe über die letzte Stunde. Doch es waren keine Ex-Blätter. Es war meine Strafarbeit, die sie in der Hand hielt. Diesmal waren es meine Augen, die sich entsetzt weiteten.

 

J-lo platzierte sich auf das Pult. Als sie die Beine kreuzte, sah sie mich mit einem verschmitzten Lächeln an. Dann begann sie zu lesen:

„Am Anfang war die Leere. Aber die Leere war nicht ganz leer. Es gab darin einen Funken, der seit Ewigkeiten vor sich hin glomm. Er war dem Nichts abgerungen. Er stellte dem Nichts die Freude des Seins entgegen.

Diese Freude nannte sich Gott. Sie war Gott in seiner Liebe zum Sein. Gott war von der Freude und Liebe zum Sein durchdrungen. Er war dieses Sein von Anfang bis Ende. Und dieses Sein war so vollkommen wie das Nichts, über das es triumphierte.

Doch alle Liebe und Freude sind austeilend. So kam es, dass Gott, um der Liebe und Freude Raum zu geben, innerhalb dessen sie sich erfahren konnten, sich vervielfältigte und Wesen schuf, die ihm an Rang und Macht fast gleichkamen: die Erzengel. Sie waren fortan der innere Kreis der Schöpfung und nahmen Anteil an der Liebe und Freude ihres Schöpfers, als wären sie er selbst.“

J-lo machte eine Pause und sah mich an. Ich vermutete zumindest, dass sie das tat, denn ich hatte die Augen halb geschlossen und befand mich mit meinem Selbstwertgefühl und allem was dazu gehört 20.000 Meilen unter der Erde. Es durfte einfach nicht wahr sein. J-lo verlas meinen Entwurf zur Lösung der wichtigsten Frage der Menschheit vor der ganzen Klasse als wäre es irgendein Übungsaufsatz.

Wollte sie mich lächerlich machen? Vorsichtig öffnete ich die Augen und musterte ihren Gesichtsausdruck. J-lo lächelte wie die Unschuld selbst. Sie dachte wohl allen Ernstes, sie würde mir eine Freude bereiten. Es war einfach unfassbar. War sie sich denn überhaupt nicht im Klaren darüber, was sie anrichtete? Mein Blick wanderte zu ihren Knien, auf dem mein zehnseitiger Erguss von letzter Woche lag. In Gedanken verwandelte ich mich in Jack-the-Paper-Ripper und zerstückelte das ominöse Machwerk in tausend Fetzen.

Eigentlich hätte ich ja damit rechnen müssen. Dass meine Reli-Lehrerin eine Nacharbeit, die sie mir eigens zu dem Zweck verordnet hatte, meine bisher verabsäumte Bereitschaft zur Mitarbeit in ihrem Fach unter Beweis zu stellen, unter Verschluss halten würde, war natürlich naiv von mir. Aber irgendwie hatte ich mir vorgestellt, J-lo würde alles unter vier Augen regeln, nachdem sie die Tragweite dessen, was ich zu Papier gebracht hatte, einschätzen konnte. Ich hatte auf den zehn Seiten ja nicht nur das Geheimnis der Schöpfung enträtselt und den Code geknackt, der allem Seienden zugrunde lag. Ich hatte darin auch eine Verschwörung geradezu kosmischen Ausmaßes aufgedeckt. Mein Dossier enthielt Informationen, die der Sprengkraft von einer Million Atombomben gleich kam. Wenn man sie unvorbereitet auf die Menschheit los ließe, dann konnte das unter Umständen die Apokalypse heraufbeschwören. 

Leider hatte das Unheil bereits seinen Gang genommen. Die letzten Tage der Menschheit waren angebrochen. J-lo würde mein Traktat bis zum Ende vorlesen, dessen war ich mir sicher. Und ich täuschte mich nicht, denn sie hatte sich inzwischen an die Klasse gewandt.

„Wenn ihr euch fragt, was ich hier lese, dann macht euch auf eine Überraschung gefasst. Ich stelle euch heute eine wirklich bemerkenswerte Arbeit vor. Sie stammt von Konya und ist das Wunderbarste, das ich je zum Thema „Theodizee“ gehört habe. Als ich sie gestern zu Ende las, kamen mir die Tränen, so schön fand ich sie. Also gut zuhören und Taschentücher bereithalten!“

Ich prüfte erneut J-los Miene. Es war keine Spur von Ironie oder Spott darin. J-lo trug das reinste Engelsgesicht zur Schau, als hätte sie eine dreijährige Ausbildung als Schauspielerin im Kurs „Verstellungstechnik“ durchlaufen. Und sie behielt diese Maske die ganze Zeit auf, während sie weiter las.

„Unter den Erzengeln waren Gabriel, Michael, Raphael und Luzifer die mächtigsten. Sie spiegelten zur Freude des Herrn das Licht des göttlichen Funkens am reinsten wider. Und sie vermehrten seine Freude, indem sie sich und ihm eine zahlreiche Gefolgschaft von Engeln schufen, die das göttliche Licht auf ihre Weise vermehrten und allesamt in den Chor der Lobpreisung Gottes mit einstimmten.

Der innere Kreis der Schöpfung war damit vollendet. Er war in sich vollkommen.

"Amor, Caritas", Louvre, Paris

Doch die Liebe Gottes enthält ein für sie selbst unergründliches Geheimnis. Sie kann als einzige unter allen seinen Eigenschaften durch Brechung noch gesteigert werden und das Lob Gottes und seiner Schöpfung zur allerhöchsten Stufe der Vollendung führen, indem sie sich kleiner macht.

Luzifer, der strahlendste der Erzengel, spürte das, und so trat er eines Tages vor seinen Schöpfer.

„Herr, ich habe eine Bitte!“

„Sprich!“, sagte der Herr.

„Lass mich dein Werk vollenden!“

Obwohl er die Bitte Luzifers erwartet hatte, erschrak der Herr.

„Weißt du, was du von mir forderst?"

Und da sahen sich der Herr und Luzifer lange an. In ihren Blicken war eine tiefe Liebe zueinander, eine Liebe so tief wie das Wesen Gottes selbst. Und der Herr ergründete die Liebe Luzifers bis auf den tiefsten Grund, dorthin, wohin seine Liebe noch nie vorgedrungen war.

Was er dort fand, machte ihn schaudern.

All das Leid der Welt, all die Qual der formgewordenen und von Gott entrückten Wesen, all die Tränen der von Not, Schmerz, Krankheit und Krieg gequälten Seelen, der Entrechteten und Unterdrückten, all die Verzweiflung der ins Dunkel der Bosheit, Hoffnungslosigkeit und des Irrglaubens gefallenen Seelen drangen wie ein gellender Schrei an das Ohr des Herrn.

Und der Herr schloss die Augen, um vor Luzifer seine Tränen zu verbergen.

Nach einer langen Zeit, in der er mit sich gerungen hatte, öffnete er erneut die Augen und blickte Luzifer an. Diesmal las er Freude in den Augen seines treuesten Vasallen, eine tiefe und so noch nie gefühlte Freude, die, als sie sich dem Herrn erschloss, die Freude des göttlichen So-Seins noch um vieles übertraf.

 

Es war die Freude der Kreaturen am Sein und die Erfahrung der göttlichen Liebe und Ordnung in diesem Sein, es war die Freude der Seelen, die sich wiederfanden in der Hingabe füreinander und in der bedingungslosen Liebe zueinander, es war die Freude der Getrösteten, der Geheilten, der Verirrten, die wieder auf den Weg zurück gefunden hatten, es war die jubelnde und triumphale Rückkehr Gottes zu sich selbst.

 

Und der Herr sah Luzifer an und nickte.

„Geh und verrichte dein Werk, Luzifer. Aber sei dir im Klaren, dass du für meine Untertanen als Rebell von mir scheiden musst. Sie würden es nicht verstehen."

Luzifer verbeugte sich zum Dank tief vor seinem Herrn.

„Ich werde unser Geheimnis wahren bis ans Ende der Zeit, Herr."

Aber er hatte noch ein Anliegen.

„Herr, wirst du mich dann auch wieder erlösen aus der Finsternis?"

Denn Luzifer wusste, dass er sich ganz hinab begeben musste, an den untersten Grund des göttlichen Anders-Seins, wo Gott sich so fremd geworden ist, dass er sich selbst nicht mehr erkennt und aus eigener Kraft nicht mehr zu sich findet. Luzifer wusste, dass er dieses Opfer vollbringen musste, um den Bogen ganz auszuspannen zwischen Himmel und Hölle, denn die Liebe und die Freude in der Schöpfung konnten nur dann bis zu ihrem höchsten Punkt gesteigert werden, wenn auch der Widerpart der Schöpfung bis ins Herz der Finsternis und an ihren dunkelsten Punkt rührt – dorthin, wo kein Strahl der göttlichen Liebe mehr dringt und wo es keine Rettung für die verlorenen Seelen mehr gibt.

Der Herr sah seinen Schützling voll tiefer Liebe an.

„Ich werde all das Leid dieser Welt mit dir tragen, mein Getreuer. Und ich werde dich auch dann nicht vergessen, wenn du in der Finsternis ausharrst und aus Verzweiflung darüber, dass du nicht mehr zu mir zurück findest, dem Bösen verfällst und inwendig das sein wirst, was in deinem Verlies über dich verhängt wird. Du wirst trotz allem auch dort weiter mein Diener sein, selbst wenn du es nicht weißt!“

Luzifer sah seinen Herrn voll Dankbarkeit an, doch noch waren nicht alle seine Zweifel ausgeräumt.

„Aber werde ich dereinst zu dir zurückkehren zu dir, mein Herr und Gebieter?“

Der Herr hob die Hand wie zum Schwur und antwortete:

„Ich werde meinen Sohn hinab schicken in die Welt zur Erlösung der Menschen von der Sünde. Er wird nach seinem Tod in die Hölle und bis zum tiefsten Punkt der Finsternis hinabsteigen und auch dein Kreuz auf sich nehmen, so dass du am Ende aller Tage erlöst werden wirst, zum Himmel auffährst und zum Lohn fortan sitzest zur Linken Gottes."

Luzifer verbeugte sich vor dem Herrn voll tiefer Dankbarkeit. Diesmal war er es, der die Augen schloss, um seine Tränen zu verbergen. Der Herr sah es und umarmte Luzifer.

„Nun geh, nimm deine Getreuen mit und sei ohne Furcht!"

Dann wandte sich der Herr und ging davon, denn auch er weinte.

 

Luzifer aber begab sich mit den Seinen hinab und spannte den Bogen bis in die untersten Gefilde der Schöpfung. Die himmlischen Heerscharen, die beim Herrn blieben, begriffen nicht, was vor sich ging, und glaubten, Luzifer hätte sich von seinem Schöpfer eigenmächtig abgewandt.

Doch alle Seelen, die es Luzifer seitdem nachtun, aus eigenen Stücken ins Fleisch fallen, an die Materie gekettet werden und gespannt sind zwischen Himmel und Hölle, tun dies, um die göttliche Liebe bis in ihre tiefsten Tiefen auszuloten und damit den Lobpreis Gottes und seiner Schöpfung zu vermehren.

 

Geschrieben von Konya Koolman nach dem Diktat seines Schutzengels Anakin."

 

 

Obwohl es bis auf vereinzeltes Getuschel in der Klasse während J-los Lesevortrags ziemlich ruhig gewesen war, brach die Klasse nun, bei dem Nachtrag, unisono in schallendes Gelächter aus. Wenigstens das hätte J-lo mir ersparen können. Es war im höchsten Maß taktlos.

J-lo aber schien keine Skrupel deswegen zu empfinden und war stattdessen sichtlich gerührt. Sie glitt vom Pult und kam auf mich zu.

Ich machte mich gefühlsmäßig so platt wie eine Briefmarke auf meinem Stuhl. Aber es nützte nichts. Für J-lo war ich ohne Zweifel der nominierte Nobelpreisträger für religiöse Erbauungsliteratur. Sie sah mich die ganze Zeit, während sie zu mir hinter kam, mit ihren märchenbraunen Augen, in denen sich doch glatt zwei Tränchen gesammelt hatten, an, als sei ich der Lichtbringer und Erlöser in Person. Und wenn ich bis dahin glaubte, ich sei in einem Albtraum gefangen, so war ich mir bei dem, was nun folgte, ziemlich sicher, dass es sich wohl doch eher um einen Lebensausschnitt aus einer meiner völlig verkorksten Parallelexistenzen handelte, die irgend ein teuflischer Dämon mir als die wahre Wirklichkeit verkaufte.

Als J-lo an meiner Bank angelangt war, beugte sie sich über die Tischplatte, stützte beide Ellenbogen darauf und nahm meinen Kopf in ihre Hände. Dann sah sie mich so durchdringend an, dass ich mich innerlich nackt wie Adam nach dem Sündenfall fühlte, und drückte mir einen Kuss auf die Stirn.

Ich wiederhole: Einen Kuss.

Eine Religionslehrerin und angehende Studienrätin küsste ihren minderjährigen Schutzbefohlenen vor der ganzen Klasse.

Aber statt aufzuspringen und Fräulein Brunner augenblicklich wegen eines sexuellen Übergriffs im Unterricht beim Direktorat anzuzeigen, blieb ich Blödian sitzen und nahm die Liebesbezeugung ohne Regung – oder zumindest ohne eine für meine Mitschüler, die sich natürlich einen Ast abkicherten, ersichtliche Regung hin.

„Danke, Konya!", flüsterte J-lo mir ins Ohr, „ich liebe dich dafür. Sei mir nicht böse, dass ich es vorgelesen habe!"

Dann verkündete sie der Klasse, dass dies der erste Fall sei, wo sie eine Nacharbeit benotete.

 

Ich kriegte eine Eins, auch wenn, wie sie hinzufügte, meine Gedankengänge nicht ganz genau dem entsprachen, was sich die Kirche unter dem Sündenfall Luzifers vorstellte.

"Der Riss"
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© Konya Koolmann