Tagebuch eines Weltenwanderers
Tagebuch eines Weltenwanderers

Zoe-Chenoa, genannt Sen

Sen ist ein Intermezzo in Konyas Liebesleben.

In ihrer Art, wie die bildhübsche Halbschwester Rappus Konya die „ewige Liebe“ auszutreiben versucht, wirkt sie manchmal wie Kiki. Und doch sucht sie in ihrer Unsicherheit, ob sie der Werbung des viel älteren Mehmets nachgeben soll, bei Konya Rat und Unterstützung. Konyas idealistischer Glaube an die ewige Liebe bezaubert sie irgendwie, doch bevor sie sich ihm anschließt, prüft sie Konya erst einmal auf seine eigene Treue. Nachdem er dabei kläglich versagt und Jule im Prinzip bereits hier schon verrät, lässt sie sich als Trost für ihn 

etwas Besonderes einfallen: Er darf von ihrer Liebe naschen und ihre schönen Füße zu küssen. Dass Konya dabei den kostbaren Brillantring, den Mehmet ihr als Symbol seiner „ewigen Liebe“ zur Verlobung schenkte, ablutscht und verschluckt, war natürlich nicht vorgesehen. So trägt Konya sein Ideal wenigstens in seinem Bauch herum und fühlt sich dadurch ein Stückchen wertvoller, auch wenn seine Liebe zu Sen den Bach runtergeht.

Kapitel 14: Sen testet Konyas ewige Liebe

Rappu hatte auch eine ältere Schwester – eine Stiefschwester aus Marians erster Ehe.  Zoe-Chenoa, die „weiße Taube“, wie sie eigentlich hieß (aber alle sagten Sen zu ihr), war groß und schlank und hatte absolut keine Ähnlichkeit mit ihrem Bruder. Das Einzige, was sie äußerlich mit ihm verband, waren die leicht abstehenden Ohren. Aber bei ihr sah das irgendwie gut aus. Sie sah überhaupt sehr gut aus. Viel zu gut, wie sich zeigen sollte.

Sen war siebzehn und hatte die Schule nach der Mittleren Reife abgebrochen, weil sie fand, dass sie dort nichts Brauchbares lernte. Im Moment jobbte sie gerade, büffelte aber nebenbei in der Abendschule und praktizierte in ihrer kleinen Praxis Yoga, Ayurveda und so Kram für ihren Bekanntenkreis. Sie hatte einen festen Freund aus ihrer Zeit in Finsterwalde, der sie regelmäßig besuchen kam. Mehmet, wie ihr Liebhaber hieß, war fast doppelt so alt wie sie, dafür aber ziemlich gut situiert. Marian mochte Mehmet nicht besonders, aber sie duldete seine Besuche, weil Mehmet Sen finanziell unterstützte und ihr „eine Richtung gab“, wie Marian es ausdrückte. Obwohl ich weder Mehmet noch Sen kannte, konnte ich mir irgendwie ganz gut vorstellen, welche „Richtung“ Sens Liebhaber ihr gab. Das sagte ich Marian natürlich nicht. Aber ich war schon eifersüchtig auf den Bastard, bevor ich Sen überhaupt zu Gesicht bekommen hatte. Hätte ich vorher gewusst, in was für ein Wespennest ich mich da setzte, wäre ich wahrscheinlich vor Schreck ins Wachkoma gefallen. 

Nachdem Rappu mich seiner Mama vorgestellt hatte, saßen wir in der Küche, während Marian das Abendessen vorbereitete. Marian hatte mich dazu eingeladen. Sie lud dauernd irgendwelche Leute zum Essen ein. Sie war die spendabelste Person, die ich kenne, obwohl sie selbst nicht viel Kohle hatte.

 

(... Rappu und Konya streiten dann über Gefühl als Grundlage des Glaubens) 

 

„Gefühl?“, fragte Rappu mit einem leicht spöttischen Unterton. „Du errichtest deine Weltanschauung auf Gefühlen? Ganz schön fahrlässig, junger Freund.“

„Wieso?“

„Weil Gefühle manipulierbar und unkontrollierbar sind. Ohne Steuerung durch die Vernunft bist du ihnen so hilflos ausgeliefert wie ein Schiff ohne Ruder der hohen See.“

Der Vergleich war einleuchtend und ich fühlte mich in die Enge getrieben. Wenn ich jetzt zugab, dass ich eine rationale Kontrolle brauchte, um meine Gefühle und damit meinen Glauben zu steuern, dann hatte mich Rappu da, wo er mich haben wollte – denn auch auf Vernunft war kein Glaube zu gründen, soviel war mir klar.

Ich dachte plötzlich an Jule und was mich immer noch mit ihr verband.

„Es gibt Gefühle, die uns leiten können.“

Konya lachte schadenfroh, als hätte er mich schon in der Falle.

„Gefühle? Uns leiten? Bist du noch bei Trost, Konya? Gefühle sind das Unbeständigste und Unberechenbarste, was es gibt! Auf Gefühle kannst du nicht vertrauen!“

Marian intervenierte.

„Jetzt mach mal die Gefühle nicht so runter, Raphael. Das Schönste im Leben sind doch nun mal Gefühle. Und mit deiner Vernunft allein kommst du auch nicht weiter. Guck doch bloß, wie weit sie uns gebracht hat.“

„Jedenfalls weiter als Gefühle wie Hass, Neid, Eifersucht und Gier, Mama.“

„Aber es gibt doch auch gute Gefühle“, widersprach Marian.

„Zum Beispiel?“

„Die Liebe“, sagte ich.

„Genau“, pflichtete Marian mir bei. 

Und dann sagte ich noch etwas. Etwas, das mir eben gerade in diesem Moment einfiel. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht, weil ich immer noch auf ein gutes Ende mit Jule hoffte.

„Und auf die Liebe kannst du vertrauen. Wahre Liebe ist unfehlbar. Sie hält ewig“

In genau diesem Moment kam Zoe-Chenoa in die Küche.

Rappu hatte mir zwar von seiner Schwester erzählt, aber wir waren uns bis dahin noch nicht begegnet.

 

Mein erster Gedanke war, Miss Universum hatte sich in der Tür geirrt.

Mein zweiter war, ich hoffte, Miss Universum hatte sich nicht in der Tür geirrt.

Mein dritter war, ich konnte mir nicht vorstellen, dass Miss Universum Rappus Schwester war.

„Das ist meine Schwester Sen“, sagte Rappu.

Ich starrte Sen an wie eine überirdische Erscheinung.  Das Einzige, was die Erscheinung einigermaßen irdisch machte, waren die Schlitze in ihrem Kleid. Sie reichten praktisch bis zur Hüfte und gaben immer abwechselnd eines von ihren langen Beinen frei, wenn sie ging.    „Du bist Konya, nicht wahr?“, sagte Sen, schlenderte zu mir und drückte meine Hand.

Alles, was ich zustande brachte, war ein zaghaftes Nicken. Ich fürchtete, ich könnte diese Engelwesen mit dem kleinsten Laut verscheuchen. 

„Ich hab euch reden gehört. Lass dich von Raffi nicht verunsichern. Er will nur provozieren. Im Grunde ist er neidisch auf alle Leute, die den Mut haben, an was zu glauben.“

Rappu lachte keckernd.

„Neidisch? Schwesterlein, du solltest mich besser kennen. Ich glaube ja schließlich auch. An die Macht der Vernunft nämlich. Und die sagt mir, dass es mit eurem Glauben nicht weit her ist, wenn er nichts außer Gefühle hat, worauf er sich stützen kann. Und mit der Liebe  steht es nicht viel besser. Im Gegenteil – sie ist das fehlbarste aller Gefühle.“

Sen machte sich an der Anrichte zu schaffen und steckte sich eine Selleriestange in den Mund.

„Raffi“, sagte sie kauend, „nur weil du schlechte Erfahrungen gemacht hast, solltest du nicht alle Leute runtermachen, die Liebe füreinander empfinden.“

Sen blickte mich dabei so verschwörerisch an, dass mir fast bange wurde. Zum Glück kam Marian mit dem Essen an und wir verschoben unser Gespräch bis auf weiteres.

 

Beim Essen erzählte Marian uns die Geschichte ihrer ersten Liebe. Es war so eine irre Story, dass es einem echt die Schuhe auszog beim Zuhören. Marian hatte eine Art zu erzählen, die einfach umwerfend war. Sie konnte Details so ausschmücken, dass man sie richtig vor sich sah, und wenn sie die Leute nachmachte, dann meinte man, sie steckten in ihr drin. Rappu und Sen lachten sich einen Ast ab. Leider konnte ich mich nicht so voll konzentrieren auf das, was Marian erzählte, weil Sen direkt neben mir saß. Es machte mich fertig, so nah bei ihr zu sitzen. Sie sah so verdammt gut aus. 

 

Um mich abzulenken, dachte ich darüber nach, was Rappu über den Glauben und die Liebe gesagt hatte. Im Prinzip hatte er Recht. Mit Logik und Vernunft konnte man weder den Glauben noch die Liebe begründen. Gott ließ sich nicht beweisen. Das Universum konnte seine Entstehung genauso gut dem Zufall verdanken. Dann waren auch wir Zufallsprodukte und nach nirgendwohin unterwegs. Und die Liebe war zweifellos ein großartiges Gefühl und sorgte dafür, dass die Menschen nicht ausstarben. Aber notwendig war sie deshalb noch lange nicht. Wer sagte denn, dass es Menschen geben musste?

 

Sen riss mich aus meinen Gedanken.

„Darf ich dir eine Frage stellen, Konya?“

Ich nickte.

„Warst du schon mal verliebt?“

Ich blickte verlegen umher. Marian und Rappu räumten gerade das Geschirr ab und schienen sich nicht groß für unser Gespräch zu interessieren.

„Ja“, sagte ich zögernd, „ich glaube schon.“

Ich dachte natürlich an Jule.

„Bist du es noch?“

Sen wollte es aber wirklich wissen.

„Ich weiß nicht. Im Moment steht es nicht so gut mit uns.“

Sen lächelte.

„Und du glaubst, Liebe ist unfehlbar und ewig?“

Ich wusste nicht, worauf Sen aus war. Wollte sich mich widerlegen, oder wollte sie, dass ich sie widerlegte?

„Sie ist unfehlbar, solange man verliebt ist“, sagte ich schließlich und hoffte, Sen würde die Befragung bald beenden. Sie dachte aber offenbar nicht daran und lachte schallend.

„Deine Liebe ist ewig, so lange du verliebt bist? Das ist echt putzig, Konya!“

„Ich wollte sagen …“

Ich wusste nicht mehr weiter und senkte trotzig den Kopf. Sollte Sen doch denken, was sie wollte. 

„Du wolltest sagen, Liebe ist ewig, aber nicht ewig an eine Person gebunden. Sie kann sich immer wieder was Neues suchen, oder?“

In dem Moment, wo Sen das sagte, spürte ich, wie sie unter dem Tisch mit ihrem Fuß erst an mein Bein stupste und dann an meinem Schienbein entlang strich. Es ging mir im wahrsten Sinn durch Mark und Bein. Manno, ich wäre fast an die Decke gegangen. Aber ich riss mich zusammen und tat so, als merkte ich nichts.

„Die Liebe kann sich da oder dort niederlassen“, sagte ich und wusste gar nicht richtig, was ich laberte, so brachte sie mich aus der Fassung. „Manchmal bleibt sie, manchmal geht sie. Aber sie geht nie verloren.“

Gott, was redete ich da bloß für einen Schrott. Aber Sen schien das nicht so tragisch zu nehmen.

„Du bist süß“, sagte sie und stupste mich wieder mit dem Fuß. „Ich würde mich gerne mal in Ruhe mit dir unterhalten.“

Von Ruhe konnte jetzt ja wohl keine Rede sein, abgesehen davon, dass Marian und Rappu gerade zurückkamen. Sen stand auf und verzog sich wieder in ihr Zimmer, nicht aber ohne mir vorher zum Abschied einen Kuss auf die Stirn gedrückt zu haben.

 

Ich quatschte dann noch eine Weile mit Rappu, aber irgendwie konnte ich mich nicht mehr so richtig auf das Gespräch konzentrieren. (...)  Sen hatte mich fertig gemacht. 

 

Ich kapierte gar nichts mehr. Was wollte dieses Mädchen eigentlich von mir? Was konnte eine Miss Universum veranlassen, sich an einen minderjährigen Knirps ranzumachen, noch dazu, wo sie doch einen festen Freund hatte?

O.k., ich war inzwischen fünfzehn Jahre alt, ordentliche 1.80 groß, voll im Stimmbruch und von der äußeren Erscheinung nicht direkt ein Bürgerschreck. Aber das Nobody-Image haftete mir irgendwie immer noch an. Wer sollte sich schon groß für mich interessieren? Ich meine, was konnte ich, was tausend oder millionen Leute nicht viel besser konnten als ich? Ich war nichts Besonderes, und das war wohl auch der Grund, warum sich niemand besonders für mich interessierte. Ausgenommen vielleicht der Köter von Herrn Ansorge in der Etage unter uns. Der ging mir nämlich auch jedesmal ans Bein, wenn er mich sah.

 

Kapitel 16: Sens Füße

Sens Füße

Eines Tages hatte ich mich wieder mal zu einem Treffen bei Rappu verabredet. Da wir festgestellt hatten, dass es in Diskussionen über die Big-Old-Daddy-Frage keinerlei Annäherungen mehr gab und wir uns irgendwie festgefahren hatten, wandten wir uns praktischeren Dingen zu. Rappu gab mir jetzt regelmäßig Nachhilfe in Mathe. Die Geschichte mit Sen und Mehmets Verlobungsantrag lag schon über zwei Monate zurück, und ich ging auch deshalb ohne große Erwartungen dorthin. Zu meiner Erleichterung hatte ich festgestellt, dass die räumliche Distanz zu Sen, je länger sie währte, mir guttat. Sie gab mir meine Freiheit Stück für Stück zurück, auch wenn jedes Stückchen teuer erkauft war, denn es tat weh, die Liebe zu Sen preiszugeben, selbst wenn sie hoffnungslos war.

Als ich bei den Pugelfugs klingelte, machte erst ewig niemand auf. Ich wollte schon wieder unverrichteter Dinge abziehen, als der Türöffner summte. Ich stieg die Treppen zum zweiten Stock mit einem ziemlich mulmigen Gefühl hoch. Irgendeine Vorahnung sagte mir, dass etwas nicht stimmte. Die Tür zur Wohnung war offen, aber niemand zu sehen. Auf der Kommode am Eingang lag ein Zettel.  Darauf stand in der schnörkeligen Handschrift Rappus: „Konya, bitte warte. Sind gleich zurück!“ Rappu und Marian waren also aus irgendeinem Grund außer Hauses. Aber wer hatte mir die Tür geöffnet?

 

Dann sah ich sie.

Sie lehnte am Türrahmen vor ihrem Zimmer. Sie lächelte mich an, als sei nie etwas gewesen. Als hätte ich nicht wegen ihr in der Hölle gelitten. Als hätte ich nicht tausend Stunden nackt auf dem glühenden Bratrost der ewigen Liebe geschmort.

 

Mein erster Impuls war, die Wohnung stehenden Fußes wieder zu verlassen. Es war ein klarer Vertragsbruch von Rappu. Er hätte mich nie herbestellen dürfen, während seine Schwester da war.

„Wo ist Rappu?“, fragte ich.

„Keine Ahnung. Vielleicht hilft er Mama beim Einkaufen.“

„Rappu sagte, du wärst weg.“

„Ich bin früher als sonst von der Arbeit da. Rappu wusste davon nichts“, sagte Sen immer noch lächelnd. Offenbar kannte sie unsere Abmachung also. Aber sie hatte trotzdem die Tür geöffnet. Dann hatte sie also den Vertrag gebrochen.

Ich setzte zum Gehen an. Aber ich konnte keinen Schritt tun. Sen blickte mich an. Sie sah mich wieder an wie damals beim Abendessen, kurz bevor Mehmet ihr diesen idiotischen Verlobungsantrag machte. Sie pinnte mich fest. Ich war ihr in die Falle gegangen.

Ihr Blick war ziemlich ernst, aber da war so ein Funke Übermut drin oder so etwas in der Art – ich weiß nicht, wie ich es nennen soll, Herausforderung, keine Ahnung. Vielleicht auch einfach nur Lust am Quälen, wenn ich genau hinschaute.

„Hallo“, sagte ihr Blick. „Schön, dich wiederzusehen.“

Ich verkniff mir ihr zu signalisieren, was für eine Schweinebacke sie war, mich in so einen Schlamassel gebracht zu haben. Stattdessen morste ich zurück, dass ich die ganze Zeit an nichts anderes hatte denken können als an sie. Und wie sehr sie mich leiden machte.

„Ich weiß“, funkte sie zurück. „Es tut mir leid.“

Aber ein Glimmen in ihren Pupillen verriet mir, dass es ihr nicht wenig Vergnügen bereitete, einen pubertierenden Bengel gefühlsmäßig mal so richtig in die Scheiße zu tauchen.

Sen war ein echter Satansbraten

Doch dann bekam ihr Blick einen ganz anderen Ausdruck. Plötzlich war so ein Glanz darin, den ich zunächst nicht deuten konnte.

„Ich liebe dich“, las ich, „ich liebe dich, Kleiner. Ich liebe dich wirklich, ob du mir das jetzt glaubst oder nicht.“  

Ich glaubte es nicht. Sen liebte mich. Ihr Blick verriet es mir eindeutig. Doch noch bevor ich in Richtung siebter Himmel richtig abhob, holte mich die Wirklichkeit ein. Der Ausdruck von Sens Augen hatte bei genauerem Hingucken nämlich etwas Changierendes. Etwas, das die Botschaft entscheidend relativierte. Einen Nachsatz, der lautete: „Aber nimm meine Liebe bitte nicht zu ernst.“

Mein Flug zu den Sternen endete schon an der Zimmerdecke. Dort klebte ich nun wie eine plattgewalzte Wanze.

Erst jetzt gab Sen mich frei.

 

Ich erwachte wie aus einer Art Dämmerschlaf. Zum ersten Mal konnte ich die Dinge wahrnehmen, wie sie waren. Sie waren bei weitem nicht so trostlos, wie ich angenommen hatte. Sen liebte mich. Das hätte mich in den siebten Himmel katapultieren müssen. Aber ich durfte ihre Liebe nicht ernst nehmen. Warum auch immer. Das beförderte mich wieder in den tiefsten Schlund der Hölle.  

 

Ich beschloss, mich irgendwo dazwischen einzurichten, also etwa auf der Erde, und alles ganz realistisch zu sehen. Die Dinge hatten sich für mich nicht wirklich geändert. Ich musste auf der Hut sein. Ich würde nicht zum Stein des Anstoßes werden. Sen würde mich nicht in Versuchung führen. Die ewige Liebe würde ich vorsichtshalber in meinem Herzensschrein verschließen. Niemand würde sie dort je wieder hervorholen, um damit ein neckisches Spiel zu treiben. Schon gar nicht Sen, die es wahrscheinlich jetzt genau wieder darauf abgesehen hatte.

 

Ich betrachtete sie näher. Sie trug so eine Art indischen Sari aus ziemlich dünnem Stoff und man konnte sehen, dass sie drunter, wenn überhaupt etwas, nicht gerade viel anhatte. Ich verzichtete darauf, näher nachzuforschen und blieb auf Distanz. Doch es nützte nichts. Sen stöckelte her und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. Sie roch nach Massageöl und Räucherkerzen.

„Willst du nicht zu mir hereinkommen? Ich wollte dir sowieso mal meine Praxis zeigen.“  

Ich blickte etwas ratlos. Eigentlich musste ich auf Rappu warten. Andererseits wollte ich das nicht mit Sen tun. Doch bevor ich Einwände erheben konnte, fasste Sen mich an der Hand und zog mich mit sich.

 

Sens Praxis hätte jeder Szene-Disco das Wasser gereicht. Strahler in allen Farben erzeugten ein regenbogenfarbiges Schummerlicht, das vom Räucherstäbchennebel zum großen Teil verschluckt wurde. Die Wände waren, soweit man das erkennen konnte, mit Landschaftsbildern bestückt und zeigten neben viel Nebel auch Sonnenauf- oder -untergänge in allen Variationen. Sonst gab es noch eine Massagebank und ein riesiges Tepse mit Sitzkissen drum herum. Sen legte eine CD mit Eso-Musik ein und bat mich, auf einem der Kissen Platz zu nehmen.

Ich setzte mich, sagte aber nichts und blickte stur auf den Boden. Ich hatte vor, mich auf nichts einzulassen. Schon gar nicht auf ein Gespräch über die ewige Liebe.

Ich hoffte, Marian und Rappu würden bald erscheinen.

Sen brachte eine Kanne mit indischem Tee und schenkte ihn in die Trinkgefäße, die auf dem Tepse standen. Sie fragte, ob ich Zucker wollte. Ich verneinte, blickte aber weiter auf den Boden. Ich war, wie schon gesagt, fest entschlossen, den Blick nicht zu heben, solange ich mit ihr allein war. Ich würde ihr nicht nochmal zu tief in die Augen schauen.

Sen streifte ihre Pantinen ab, setzte sie sich mir gegenüber und kicherte.

„Hast du Genickstarre oder was?“

Ich schwieg und studierte das Webmuster des orientalischen Teppichs unter mir.

Sen kicherte wieder und streckte ihre Beine aus, so dass ihre Füße genau vor mir zu liegen kamen. Ich konnte gar nicht anders, als sie anzusehen.

Na gut, ich hätte die Augen schließen können.

Aber dazu war es schon zu spät. Ich hatte Sens Füße doch schon gesehen.

Und Sens Füße waren ein echter Hingucker.

Sie waren der Renner.

Es waren die schönsten Füße, die ich je gesehen hatte.

Sens Füße waren so schön, dass ich den Blick gar nicht mehr abwenden konnte, auch wenn ich gewollt hätte.

 

An dieser Stelle muss ich eine Erklärung einschalten, damit ihr nicht auf falsche Gedanken kommt und mich womöglich für einen Fußfetischisten haltet oder so was. Es passiert eher selten, dass ich die Füße von Leuten, wenn sie barfuß sind, überhaupt wahrnehme. Die meisten Füße von Leuten, die ich kenne, sind nämlich eher unansehnlich mit Schrumpelzehen, Fußpilz und Hornhaut oder so. Bei den meisten Leuten – und dazu zähle ich mich selber – ist es wirklich besser, wenn sie ihre Füße in Strümpfen und Schuhen verschwinden lassen.

 

In Sens Füße aber konnte man sich echt vergucken. Sie waren ein Kunstwerk.

Sens Füße sahen so edel aus, dass sie fast zu schade waren, um bloß zum Gehen benutzt zu werden, wenn ihr wisst, was ich meine. Ich dachte, wer solche Füße hat, sollte gar keine Schuhe benützen dürfen. Sen hatte Füße so schlank und zierlich wie eine Prinzessin und unheimlich lange, feingliedrige Zehen mit indigoblau angemalten Nägeln. Ihre Zehen waren so schlank und lang, dass sie fast aussahen wie Finger. Tatsächlich steckte auch an einem ihrer Zehen – ich glaube, es war der neben dem großen Zeh – ein Brillantring. Er fiel mir zunächst nicht einmal besonders auf, so perfekt passte er dorthin. An Sens Zehen wirkte ein Ring so natürlich wie bei einem normalen Menschen an den Fingern. Wahrscheinlich konnte Sen ihre Füße auch als Hände benutzen. Ich konnte mir gut vorstellen, dass sie mit ihren Zehen Klavier spielte oder so was, wenn sie das gewollt hätte. Ich sah sie sogar richtig vor mir, wie sie in einer Art Liegestuhl mit hochgelegten Füßen vor dem Konzertflügel saß und einem großen Publikum mit ihren Wunderzehen eine Chopinsonate vorspielte. Und wenn sie dann fertig war und Standing Ovation bekam, dann würde sie als Dankeschön nur ihre Füße in die Höhe recken und mit ihren Wunderzehen das V-Zeichen machen. So ein Mist ging mir durch den Kopf, während ich Sens Füße anhimmelte. Vielleicht war ja auch der Tee schuld. Vielleicht hatte Sen mir was reingekippt. 

 

Irgendwann nervte es Sen, dass ich dauernd ihre Füße anstarrte, denn sie hob plötzlich ihren rechten Fuß, packte meine Nase mit ihren Zehen und zog daran. Ich konnte gut verstehen, warum sie das tat, und wahrscheinlich hätte ich in ihrer Situation das Gleiche getan, aber trotzdem wurde ich knallrot und alles, weil ich mich ertappt fühlte. Das Seltsame aber war,  es machte mir gar nicht aus, ihre Zehen in meinem Gesicht zu spüren. Sie hätte sie mir sogar in den Mund stecken können und ich hätte nicht gemuckt. Alle meine guten Vorsätze waren plötzlich dahin. Aber konnte ich wissen, dass ausgerechnet Sen ein Fußwunder war? Damit hatte ich nun wirklich nicht rechnen können.

Sen lachte mich bloß aus mit ihrem Lachen, das sie von Marian hatte, und kriegte sich gar nicht mehr ein. Als sie merkte, dass ich das gar nicht lustig fand, senkte sie den Kopf, machte einen Schmollmund und sah mich von unten her mit gerunzelter Stirn an.

„Beleidigt?“, fragte sie.

„Ich mag deine Füße“, sagte ich.

„Ich weiß. Sie sehen ganz gut aus mit dem Ring, nicht?“

„Sie sehen fantastisch aus. Auch ohne Ring. Ich habe noch nie schönere Füße gesehen.“

„Wow. Möchtest du sie küssen?“

Zum zweiten Mal schoss mir das Blut in den Kopf. Aber ich spürte auch, wie es in meinem Bauch blubberte, weil die Schokolade darin langsam zu kochen anfing.

„Ja“, platzte es aus mir raus, bevor ich „Nein“ sagen konnte. Die Schokobrühe war mir offenbar zu Kopf gestiegen und hatte dort rechtzeitig alle Sicherungen durchbrennen lassen.

Sie lächelte und legte ihren rechten Fuß auf mein Knie.

„Bitte sehr. Du hast eine Minute.“

Mir war total schwindlig. Ich hatte wieder dieses Unwirklichkeitsgefühl, als ob ich mich im falschen Universum befände. Doch dann dachte ich, dass dieses falsche Universum zumindest seine Reize hatte. Wer weiß, ob ich jemals wieder auf so einen schönen Fuß treffen würde und ihn auch noch knutschen dürfte.

Und dann ließ ich alle Vorsätze restlos fahren, nahm Sens Fuß in die Hände und küsste ihn. Zuerst ganz vorsichtig auf den Spann, bis ich merkte, dass er umwerfend gut duftete, so nach Rosmarin und Patschuli oder so ähnlich, und der Gaul mit mir durchging. Sens Fuß roch so gut, dass ich ihn unbedingt auch schmecken wollte, und deshalb leckte ich ihn erst bis zu den Zehen ab und steckte mir dann einen Zeh nach dem anderen in den Mund, soviel ich eben reinkriegen konnte. Ich lutschte, nuckelte und sog an den Dingern, als wären es irgendwelche  Drogen und ich seit drei Monaten auf Entzug. Ich war echt total durchgeknallt. (...)

 

"Kämmende", Tonplastik von Schreiber
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© Konya Koolmann