Tagebuch eines Weltenwanderers
Tagebuch eines Weltenwanderers

Jule oder die ewige Liebe

von Schreiber

 Jule ist Konyas ewige Liebe. Als solche apostrophiert er sie mehrmals im Buch – einmal sogar zum Schutz gegen Kikis aggressive Sexualität. Jule als Person begleitet ihn fast durch den gesamten Roman, bleibt aber ebenso wie sein Ideal von ihr, gegen das er sich dauernd versündigt, über viele Kapitel im Hintergrund. Trotzdem ist es für Konya immer präsent. Was fasziniert Konya an Jule? Zunächst einmal ihre „unglaubliche Schönheit“, die ihn „blendet wie die Sonne“. Seltsamerweise empfindet Jule das gar nicht so - im Gespräch mit Konya gegen Ende des Romans bekennt sie sogar, dass sie sich früher als hässlich empfand. An einer anderen Stelle idealisiert er sie als ein Wesen, das „mit sich im Reinen“ ist und nicht so in sich zerstritten wie er selbst. Dann wiederum ist sie der „Kumpel“, mit dem man „Pferde stehlen kann“. Auffällig ist, dass Konya sie nirgendwo mit sexuellen Attributen in Verbindung bringt. Bis auf einen einzigen Kuss (und den am Seil hängend in einer denkbar unpassenden Situation) findet zwischen den Beiden auch keine Annäherung irgendwelcher Art statt. Konya beklagt das zwar und macht dafür die äußeren Umstände verantwortlich, die ihn daran hindern; doch selbst wenn er Gelegenheit dazu hätte, lässt er sie ungenutzt verstreichen. Es scheint fast, als wolle er sein Ideal der Reinheit nicht besudeln. So versucht er sich einmal vorzustellen, dass er Jule aufs Bein küsst, wie er es bei Kiki getan hat, und kommt zu dem Ergebnis, dass es „undenkbar“ wäre. Am Schluss lässt er sie ziehen, weil er weiß, dass er an Kiki bzw. Jana gekettet ist – durch das Kind mit ihr, aber auch den „Sexfreak“ in ihm, der von Kikis animalischer Triebhaftigkeit fasziniert ist. Erst der Tod Janas macht den Weg frei – doch nun ist Jule verschwunden. Am Ende bleibt nur die Hoffnung, dass sie sich in der Großstadt, in der sie beide leben, irgendwann wiederfinden und unter neuen Vorzeichen eine echte Partnerschaft beginnen.   

Was Jule dazu einfällt

Hallo, ich bin Jule Selbinger. Konya hat mich gebeten, für seine Homepage über uns ein bisschen was aufzuschreiben. Ich kenne Konya seit der siebten Klasse, als er neu an unsere Schule kam. Damals ist er mir eigentlich kaum aufgefallen – er wirkte ziemlich schüchtern, obwohl er ja ganz gut aussah. Ich weiß noch, dass die Jungs ihn manchmal hänselten, weil er immer so verträumt daher kam. 

Zum ersten Mal aufgefallen ist Konya mir bei einer Lehrprobe, wo er unsere Reli-Referendarin mit seinen Fragen so aus der Fassung brachte, dass sie die Probe abbrechen musste. Wir waren zwar alle deswegen sauer auf ihn, aber die Fragen, die er gestellt hatte, gaben mir zu denken. In welchem Auftrag verführte die Schlange Eva im Paradies? Dass der Teufel, der dahinter steckte, nur Handlanger Gottes sein sollte, irritierte mich ziemlich.  

Im nächsten Schuljahr war Konya dann einer der wenigen, die mit mir in die neu zusammen­gestellte Klasse kamen, aber ich ging ja damals mit Pietro und hatte keine Augen für ihn. Naja, die hat Konya mir mit dem Schülerzeitungsartikel über den wahren Pietro zum Glück geöffnet. Und ich fühlte mich schon etwas geschmeichelt, weil er mich darin als „schönes Mädchen“ betitelte. Aber der Funke sprang erst über, als wir nach dem Überfall von Pietro und seinen Leuten im Schülerzeitungszimmer gefesselt von der Decke hingen. Ich litt Höllenqualen, aber Konya versuchte mir die ganze Zeit Mut zu machen. Als er mir dann das Tape vom Mund wegriss und mich küsste, dachte ich zuerst, was geht denn jetzt ab, aber dann vergaß ich alles um mich rum, sogar die Schmerzen in den Handgelenken. Ich weiß nicht, was damals genau mit mir passierte, aber von da an spürte ich, dass wir irgendwie zusammen­gehörten.

Leider kam es ja anders, weil mein Vater Bedenken wegen weiterer Racheaktionen Pietros hatte und mir den Umgang mit Konya verbot. So ging jeder seine eigenen Wege. Natürlich kriegte ich die Geschichten, die über Konya kursierten, trotzdem weiter mit – die über sein Techtelmechtel mit Sen und vor allem seine Affäre mit Kiki. Kiki war ja eine Zeit lang meine beste Freundin, weil ihre Eltern öfter bei uns zu Besuch waren. Kiki schlief dann immer bei mir und wir tauschten unsere intimsten Geheimnisse aus. Auf diese Weise erfuhr Kiki, dass ich noch immer in Konya verliebt war, auf den sie wohl auch noch stand – doch das verschwieg sie mir. Stattdessen machte sie sich wenig später im Feriencamp in Italien an ihn ran und verführte ihn auf eine ziemlich brutale Art. Als ich das hörte, war so sauer, dass ich ihr fast gewünscht hätte, sie wäre auf ihrer Luftmatratze auf dem Meer draußen geblieben. Unsere Freundschaft war von da ab jedenfalls zu Ende, und zum Glück schien auch Koko nichts mehr von ihr wissen zu wollen.

Eigentlich wäre jetzt der Weg frei gewesen für uns, weil Pietro über alle Berge war, aber da kriegten wir Fräulein Brunner – oder J-lo – als neue Reli-Lehrerin in der Zehnten. Ich wusste vom ersten Tag an, dass Koko auf sie abfahren würde, aber er ließ sich viel Zeit damit. Zum Showdown zwischen den Beiden kam es, als Konya sich weigerte, im Unterricht Gott zu spielen und deswegen von J-lo eine Strafarbeit bekam. Die verlas sie dann vor der ganzen Klasse. Die Geschichte von Luzifer, der sich beim lieben Gott die Erlaubnis holt, die Schöpfung um die Hölle zu erweitern, um dem Bösen Raum zu geben, damit die göttliche Liebe sich besser entfalten kann, beeindruckte mich. J-lo wohl auch, denn sie drückte, nachdem sie mit der Geschichte fertig war, Koko vor der ganzen Klasse einen Kuss auf die Stirn. Ich merkte, dass Konya das wurmte, weil er sich bloßgestellt fühlte. Erst ging er eine Weile in die Versenkung, dann machte er ihr eines Tages eine Szene, aber ich ahnte, dass er von J-lo nicht mehr loskam. So war es dann auch. Konya hatte  sechs Wochen lang, ohne dass irgendjemand etwas ahnte,  ein Verhältnis mit seiner Lehrerin! Ich wusste es von Nikita aus der Parallelklasse, die mir ein paar pikante Fotos von den Beiden zeigte. Sie wollte, dass ich ihr half Konya zu erpressen, mit J-lo Schluss zu machen. Aber ich lehnte ab. Hätte ich gewusst, dass Nikita mit Kiki unter einer Decke steckte, wäre mir einiges viel früher klar gewesen. So dachte ich mir nichts dabei, als Konya plötzlich in der Tanzgruppe auftauchte und sich für den Part von Adam bewarb. Der arme Kerl musste einiges durchmachen, bis er halbwegs kapierte, worum es bei dem Tanz ging, aber am Ende stellte er sich gar nicht mal so übel an. Ein paarmal knisterte es sogar richtig zwischen uns, und da wusste ich, dass es noch Hoffnung für uns gab. Allerdings wurde meine Hoffnung noch ein paarmal auf eine harte Probe gestellt. Einmal bei der Verabschiedung von Fräulein Brunner, wo Konya  J-lo vor der versammelten Klasse anbettelte ihn doch mitzunehmen und dann auch noch einen Herzstillstand hatte. Mir blieb fast selbst das Herz stehen, als ich das mitkriegte. Und schließlich bei der Aufführung zum Schuljubiläum, wo er sich erst von Nikita rumkriegen ließ und dann von Kiki, obwohl wir zwei kurz vorher eine Mega-Performance hingelegt hatten und ich mir sicher war, dass auch bei ihm nun endlich der Funke übergesprungen war. Aber so ist Konya nun mal – in einem Moment schwört er mir die ewige Liebe, im nächsten lässt er sich von Kiki abschleppen, weil sie ihm ein Kind, das gar nicht von ihm ist, unterjubelt. Mir war von Anfang an klar, dass Kiki nur pokerte.

Ich glaube, Konya hat mich immer als eine Art Engel betrachtet, der ich gar nicht bin. Ich hätte gar nichts dagegen gehabt, wenn er mir die Füße geküsst hätte wie Sen, ganz und gar nicht. Ich glaube, er traute sich einfach nicht. Bei ihm mussten die Mädchen immer nachhelfen. Für Kiki war das ja kein Problem, die nahm sich einfach, was sie in die Finger kriegte. 

Das, was mit Kiki dann passierte, war natürlich schon tragisch. Konya stand jetzt ganz schön blöd da, allein mit dem Kind. Er schrieb mir irgendwann auch, wie leid ihm alles täte,  aber ich hatte erst mal genug von ihm. Kann sein, dass ich ihm nochmal eine Chance gebe, wenn er mir begegnet – er soll ja auch hier in B. sein. Eine Liebe, die ewig ist, stirbt schließlich nie…      

Ludwig Klein: "Frühlingsstrauß"

Jule im Roman

Kapitel 10: Jule, mein Schwarm

 

Zu Beginn des neuen Schuljahrs wurden die Klassen neu aufgemischt und ich landete in einer mit vielen neuen Schülern, die ich gerade mal vom Sehen kannte.

Und die zum Glück auch mich gerade mal vom Sehen kannten.

Nur sechs oder sieben Leute aus meiner alten Klasse waren dabei, darunter Jule Selbinger. Sie hatte einen Busen bekommen. Außerdem trug sie ihr Haar nach hinten zu einem Pferdeschwanz gebunden, was sie in meinen Augen noch hübscher machte. Ich war so glücklich, als ich sie am ersten Schultag in meiner Klasse sah, dass ich mir vor Freude fast in die Hose pisste. Sie war wohl weniger glücklich darüber als ich, aber immerhin begrüßte sie mich mit einem Lächeln, das die nächsten fünf Wochen durch meine Tagträume geisterte wie das Grinsen der Cheshire-Katze durch „Alice im Wunderland“.

Mann, ihr hättet dieses Mädchen sehen sollen. Sie hätte euch mit einem Blick ihrer eisblauen Augen niedergemacht wie der Colt von Clint Eastwood. Sie konnte mit ihren vierzehn Jahren jeden niedermachen, den sie wollte, sogar die Lehrer. Der einzige Lehrer, der nicht auf sie abfuhr, war Herr Böckler, den sie wegen Lehrermangel aus dem Altersheim geholt hatten und in dessen Inkontinenzwindel sich nun wirklich nichts mehr regte.

 

Und dieses Mädchen saß jetzt in der Bankreihe schräg vor mir. Ihr Pferdeschwanz baumelte fortan zwischen mir und allem, was sich an der Tafel abspielte, herum. Genauso wie ihre übereinandergeschlagenen Beine, mit denen sie ständig schlenkerte, als wollte sie mir die Kicks geben, die ich schon längst nicht mehr brauchte, um voll auf sie abzufahren.

Ich ließ meiner Frustration darüber, dass man mir diesen Köder vor die Nase gesetzt hatte wie dem Esel die unerreichbare Rübe an der Angel, freien Lauf und schickte ein Stoßgebet zum Himmel.

Du lieber Gott, warum nur hast du Männlein und Weiblein geschaffen und sie am Nasenring ihrer Begierden zusammen gekettet? Damit sie sich paaren und Nachkommen zeugen und das Spiel am Laufen halten?

Aber wozu?

 

Merkwürdig war nur, dass die Frage in Anwesenheit des Objekts meiner Begierde jedesmal so gut wie gegenstandslos wurde.

Ein Lächeln von Jule und alles, was ich mir bisher an Gedanken zu der Sache zusammengereimt hatte, war mit einem Mal so uninteressant und bedeutungslos wie das Gebrabbel eines Dreijährigen angesichts der Mona Lisa.

Ich fühlte mich meiner Begierde ausgeliefert wie ein Ketzer auf dem Streckbett der heiligen Inquisition. Das wirklich Dumme war nur, dass ein Geständnis mich nicht aus meiner misslichen Lage befreit hätte, denn es wäre auf taube Ohren gestoßen.

 

Jule hatte einen Anderen. Einen Typen aus der zehnten Klasse. (…)

 

 

Kapitel 11: Mit Jule am Seil

Jule und Konya sind von Jules Ex und seiner Gang im Redaktionszimmer der Schülerzeitung überfallen und an den Händen gefesselt an der Decke aufgehängt worden. Nun versucht Konya sich und Jule zu befreien.

 

Vor lauter Wut begann ich mich am Seil hochzuziehen und wieder fallen zu lassen, obwohl das die Schmerzen in den Handgelenken höllisch verschärfte. Aber der kurze Moment, wo man fiel, war ein Moment, wo man sich frei fühlte, und das wog die Schmerzen auf, so komisch das klingen mag. Während ich mich immer wieder hochzog und fallen ließ, bemerkte ich, dass die Stahlleiste, an deren Ende ich hing, irgendwie nachgab, denn mein Fall wurde jedes Mal abgefedert. Und als ich genauer hinschaute, konnte ich im Schein einer Straßenlaterne, die einen fahlen Lichtstreif an die Decke warf, erkennen, dass sich die Leiste auf meiner Seite tatsächlich schon etwas nach unten gebogen hatte. Wenn ich es schaffte, sie ganz nach unten zu biegen, dann bestand die Chance, dass das Seil über den Widerhaken rutschte und mich frei gab. Doch irgendwann nach dem dreißigsten Versuch merkte ich, dass weder meine Kräfte noch mein Gewicht dazu ausreichten, und ich versank wieder in Lethargie.

Die nächste Stunde verbrachte ich damit, dass ich immer wieder sekundenweise weg döste, aber nie richtig zum Schlafen kam, da die schmerzhafte Lage es einfach nicht zuließ. Stattdessen flammten wie Blitzlichter Szenen von Jesus am Kreuz auf, und es tröstete mich etwas, als mir klar wurde, wie viel schlimmer sein Martyrium im Vergleich zu meinem gewesen sein musste.

Dann plötzlich hatte ich eine Eingebung – besser gesagt zwei. Die erste bestand darin, dass ich plötzlich wusste, warum Jesus in die Hölle musste und was er dort getan hatte. Aber diese Eingebung verblasste so schnell wieder, dass ich sie nicht richtig festhalten konnte. Die andere Eingebung, die die eine verdrängte, war, dass mir aufging, wie ich Jule ein bisschen Erleichterung schaffen und gleichzeitig mein Gewicht vergrößern konnte, um die Leiste weiter nach unten zu biegen. Jule musste sich mit den Beinen an mir festklammern, um damit mein Gewicht zu vergrößern. Aber wie sollte ich ihr das verklickern?

Die nächste halbe Stunde verging damit, dass ich Grimassen schnitt, meinen Mund in alle Richtungen bewegte und aufzumachen versuchte. Mit dieser Übung hatte ich mehr Glück. Schließlich hatte ich das Tape soweit gelockert, dass mein Mund sich einen Spalt öffnen ließ und ich sogar meine Zunge durchstrecken konnte. Meine ersten Sprechversuche nahmen sich allerdings ziemlich kläglich aus und klangen mehr wie ein indianisches Kriegsgeheul als zivilisierte Kommunikation. Doch irgendwann brachte ich dann zumindest das Wort „Jule“ klar und deutlich heraus. Jule schlug auch prompt ihr eines Auge auf.

„Klammer dich mit deinen Beinen an mir fest!“, nuschelte ich.

Sie starrte mich nur fragend an.

„Umklammere mich mit deinen Beinen!“, wiederholte ich. „Dann gibt vielleicht der Haken nach.“

Ich schielte an die Decke und sie folgte meinem Blick. Sie nickte und versuchte zu pendeln, indem sie die Beine anzog und wieder streckte. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sie einigermaßen Schwung hatte, und ihr schmerzverzerrtes Gesicht verriet mir, dass der vermehrte Druck auf den Handgelenken ihr ziemlich zusetzte. Dann probierte sie, mich mit den Beinen zu umschlingen. Zum Glück hatte sie Jeans an, denn mit einem engen Rock wäre das Unternehmen von vorneherein aussichtslos gewesen. Ich feuerte sie so gut es ging an, und irgendwann löste sich sogar das inzwischen labbrig gewordene Tape ab, so dass ich endlich den Mund frei hatte.  Immerhin kam sie nach einigen Anläufen bis in die Höhe meiner Knie, rutschte aber immer wieder ab.

„Gut so, Jule“, lobte ich sie. „Aber versuch höher zu kommen!“

 

Schließlich hatte sie den Dreh raus und brachte ihre Unterschenkel bis auf die Höhe meiner Hüfte. Jule war bekannt als Sportkanone, spielte Volleyball, hatte den schwarzen Gürtel in Karate und tanzte in der Ballettgruppe, so viel ich wusste. Das kam uns jetzt natürlich zugute. Jule schaffte es sogar, die Füße hinter meinem Rücken zu verschränken, so dass ihre Beine eine Art Schraubzwinge um mich bildeten. Wäre ich nicht in so einer miserablen Verfassung gewesen, dann hätte ich das Ganze sogar genießen können. Jedenfalls war ich Jule noch nie so nahe gekommen wie in diesem Moment.

Jule schnaufte wie blöde nach der Anstrengung, weil sie ja nur durch die Nase atmen konnte und zudem ihr eines Nasenloch verstopft war. Sie röchelte so, dass ich fürchtete, sie würde ersticken. Schnell beugte ich meinen Kopf zu ihr hin, sagte ihr, was ich vorhatte und begann an dem Tape, das über ihren Mund geklebt war, zu knabbern. Nachdem ich ihr ein paarmal fast die Backe abgebissen hatte, kriegte ich das Tape mit den Schneidezähnen zu fassen und zog es mit einem Ruck ab. Jule wimmerte vor Schmerz, und da konnte ich nicht anders, als sie zu küssen – erst auf ihre Stirn, dann auf ihr heiles Auge und ihre Nasenspitze und dann auf den Mund.

Ihr werdet mich für pervers halten, das arme Ding in dieser ohnehin schon peinlichen Lage auch noch abzuschmatzen, aber ich konnte wirklich nicht anders. Und auf die Gefahr hin, dass ihr mich jetzt auslacht, füge ich hinzu, dass ich sie aus Mitleid und nicht aus Gier küsste. Zumindest am Anfang. Denn als Jule es ohne Mucken geschehen ließ und sogar den Mund leicht öffnete, küsste ich sie richtig. Und da wurde mir dann ziemlich heiß, und das Mitleid stand nicht mehr unbedingt im Vordergrund. Das galt wohl auch für Jule. Ich glaubte, sie sogar ganz leise stöhnen zu hören, diesmal aber nicht vor Schmerz.

Das war das zweite Mal, dass ich ein Mädchen küsste. Und die Umstände, unter denen dieser Kuss stattfand, waren kaum weniger krass als beim ersten Mal. Doch das störte mich in diesem Moment kaum. Eben noch mit Jesus in der Hölle, zählte ich jetzt zu den Seligen im Paradies. Ich küsste Jule Selbin­ger, das für mich schönste Mädchen auf dem ganzen Erdkreis, und sie küsste mich. Es war die Erfüllung meiner wildesten Hoffnungen. Es war die Erfüllung meines Lebenstraumes. Und ich schwor Jule Selbinger in diesem Augenblick ewige Treue, mochte da kommen, was wollte.

 

Natürlich platzte mein Traum. Aber er hatte zumindest für einen Moment lang Bestand, wie die Seifenblasen, die ich als Kind blies, um diesen in allen Regenbogenfarben schillernden Gebilden stolz nachzublicken, bis sie platzten. Der Reiz einer Seifenblase lag ja gerade darin, dass man wusste, es würde jeden Moment mit ihr zu Ende sein. Es musste zu Ende gehen mit ihr, daraufhin war das Spiel angelegt.

Mit Jule und mir musste es wohl auch zu Ende gehen – schon allein deshalb, weil mir als geborenem Loser dauerhaftes Glück nicht beschieden war. Dass es so schnell zu Ende gehen würde, damit hatte ich allerdings nicht gerechnet.

Das Ende kam in Form von Herrn Selbinger, dem Hausmeister der Schule und einem Polizeibeamten. Ich war so versunken in den Kuss mit Jule, dass ich gar nicht  mitkriegte, wie sie herein kamen. Erst als der Hausmeister das Licht anschaltete, bemerkte ich sie.

Eine Weile lang sahen die Drei uns ziemlich baff an, wie wir da so engumschlungen hingen. Ich glaube, sie konnten sich keinen Reim darauf machen, was da gerade abging. Nach einer Schrecksekunde löste Jule ihre Umklammerung und rief „Papa!“ Sie hauchte mehr, als dass sie rief, aber sie klang echt happy.

„Julia!“, rief Jules Papa weniger happy als vorwurfsvoll. Ich überlegte kurz, welchen Vorwurf er ihr machte. Vielleicht dachte er, wir hätten uns hier oben selber festgebunden, um ein wenig aufregender knutschen zu können. Er machte auch keine Anstalten, uns loszumachen. Der Einzige, der einigermaßen schnell reagierte, war der Hausmeister. Er schob eine Bank unter uns, stieg drauf und löste dann unsere Fesseln. Als Jule losgebunden war, kippte sie erst mal von der Bank, weil sie nicht mehr stehen konnte, und fiel dem dicken Polizeiwachtmeister voll in die Arme. Ich hatte auch so meine Mühe mit Stehen und knallte auf Julia drauf, als ich runterklettern wollte. Herr Selbinger wertete das wohl als Annäherungsversuch, denn er zischte mich an:

„Du lässt meine Tochter in Ruhe, Kerl!“

Als ich ihn verdutzt anschaute, setzte er hinzu: „Und zwar auf Lebenszeit! Verstanden?“

Ich hatte nichts verstanden, ich wollte es auch nicht verstehen, denn wenn ich versucht hätte es zu verstehen, wäre ich wahrscheinlich ausgeflippt und ihm an die Gurgel gegangen. So blieb ich nur genau wie Jule am Boden liegen und schloss die Augen. Ich war einfach so kaputt und fertig, dass ich im Moment nichts anderes tun wollte, als liegen und schlafen.

Am Ende mussten sie sogar den Sanka rufen, um uns beide abzutransportieren.

 

    

Kapitel 12: Das Aus mit Jule

(…)

Als ich nach drei Wochen wieder in meine Klasse kam, sagte ich meinem Klassenleiter Herrn Lämmert, ich hätte von meiner Krankheit eine Hörschwäche und bat ihm um einen Sitzplatz ganz vorn. Ich konnte den Anblick von Jule vor mir einfach nicht mehr ertragen. Ich hatte beschlossen, sie aus meinem Leben komplett auszublenden, denn anders glaubte ich das Schuljahr nicht zu überstehen.

Ich stellte mir vor, mein Gehirn wäre eine Festplatte und ich würde einen Löschbefehl für alle Dateien, die mit Jule zu tun hatten, erteilen. Der PC würde zurückfragen, ob ich die Dateien wirklich unwiderruflich löschen wollte, und ich würde voller Ingrimm auf „Ja“ klicken und zusehen, wie Jule sich allmählich in Nichts auflöste. Und wenn ich ihr dann irgendwo begegnete, würde ich sie gar nicht mehr erkennen. Und dann stellte ich mir vor, sie hätte irgendwann vor doch wieder eine Beziehung mit mir anfangen, aber ich hätte keine Ahnung, was sie eigentlich von mir wollte und würde sie einfach stehen lassen – und es würde kein bisschen wehtun.

Mit solchen kindischen Gedankenspielen versuchte ich vergeblich, Jule aus meinem Leben verschwinden zu lassen. Ich merkte ziemlich rasch, dass so ungefähr jede Datei auf meiner Gehirnfestplatte irgendwie etwas mit Jule zu tun hatte, und dass ich mich selbst rauslöschen müsste, um sie zu vergessen.

Ich konnte es vergessen, Jule zu vergessen.

Also ertrug ich meinen Kummer und arrangierte mich mit Jule so gut es eben ging. Ich schaute nicht mehr weg, wenn wir uns im Schulhaus begegneten und lächelte sogar zurück, wenn sie mich anlächelte. Aber irgendwie war immer eine Glaswand zwischen uns, auch wenn wir als Erinnerung an unsere gemeinsame Nacht beide die gleichen Wundmale um die Armgelenke trugen.   

 

Pietro und seine drei Kumpane wurden übrigens vom Jugendgericht zu je hundert Stunden Sozial­dienst und einer saftigen Geldbuße verurteilt. Pietro entzog sich wie erwartet der Strafe, indem er sich nach Italien zu seiner Oma absetzte. Einer der Mittäter, der Schüler an unserem Gymi war, bekam zusätzlich ein Disziplinarverfahren und flog kurz darauf wegen eines anderen Delikts von der Schule. Von den beiden anderen hörte ich nie wieder etwas.

So wäre eigentlich der Weg für Jule und mich freigewesen, hätte es nicht das Verbot von Jules Vater gegeben. Ich fühlte mich wie Romeo in der Gruft der Capulets an der Bahre von Julia. Lebendig begraben mit einer Scheintoten, der ich die ewige Liebe geschworen hatte.   

 

 

Am Passo di Alpisella
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© Konya Koolmann