Tagebuch eines Weltenwanderers
Tagebuch eines Weltenwanderers

Warum Jesus wirklich in der Hölle war

A: Jesus war in der Hölle?  Glaub ich nicht! Das wüsst ich doch!

B: Dann schau mal nach im Katechismus, dem Lehrbuch der Christen: Dort steht es schwarz auf weiß im Apostolischen Glaubensbekenntnis, das die Gläubigen jeden Sonntag in der Messe laut vortragen: „… Gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes,“ (vor dem 2. Vatikanischen Konzil hieß es noch „in die Hölle“),“am dritten Tage wieder auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel, sitzet zur Rechten Gottes, des Allmächtigen, von dort wird er kommen zu richten die Lebenden und die Toten.“

A: Er war im Reich des Todes – also war er tot!

B: Jesus war nicht tot! Jesus, der Sohn Gottes, ist unsterblich! Außerdem – wieso soll er drei Tage tot sein und dann plötzlich wieder lebendig?

A: Vielleicht lag er im Koma.

B: Ach was, du schnallst es echt nicht! Jesus hatte was zu tun dort unten. Laut kirchlicher Lehrmeinung hat er dort alle diejenigen erlöst, die wegen der Erbsünde, aber ohne eigenes Zutun, dort hingeraten waren – zum Beispiel Adam und Eva.

A: Na, die hatten doch gesündigt und vom verbotenen Baum gegessen!

B: Das ist ja gerade die Erbsünde, wegen der das Paradies verschlossen wurde. Jesus hat das mit seinem Tod gesühnt – und nun steht der Himmel für die, die guten Willens sind, wieder offen.

A: Na also, da haben wir ja die Lösung des Rätsels.

B: Das kann doch nicht alles sein. Deswegen muss Jesus doch nicht in die Hölle! Die unschuldig dorthin Geratenen zu erlösen – das hätte er auch vom Himmel aus machen können.

A: Und was glaubst du, was er dort gemacht hat?

B: Ich habe da so meine Vermutung. Ich glaube, es gab da ein Komplott am Anfang aller Tage zwischen dem Herrn und Luzifer. Einen Deal, wonach Luzifer in die Hölle ging und freiwillig den Sündenbock spielte, damit die Menschen einen Grund für das Böse hatten. Gott konnte ja schlecht dafür zuständig sein, sonst wären ihm seine Schäfchen sicher irgendwann davongelaufen, wenn sie das erfahren hätten.

A: Du meinst echt, Luzifer wurde gar nicht in die Hölle gestürzt?

B: Iwo. Das wurde nach außen nur so dargestellt, damit es so aussah, als hätte sich der Teufel losgesagt von Gott. In Wirklichkeit handelte er im Auftrag des Höchsten, zumindest mit seinem Einverständnis. Der Deal war natürlich auch, dass der Alte – äh, Gott, meine ich – Luzifer irgendwann aus seinem Höllenloch wieder erlösen würde.

A: Und du meinst, das hat Jesus getan, als er in der Hölle war? Den Teufel erlöst?

B: Klar doch – von da ab ist Jesus ja der Sündenbock, der die Sünden der Welt auf sich genommen hat. Allerdings muss Luzifer noch eine Weile dort unten bleiben, bis alle erlöst werden können. Das hat Jesus ihm nämlich auch gesteckt. Die Hölle ist gar nicht ewig.

A: Das ist ja ein Ding! Und wieso weiß das niemand?

B: Psst – das bleibt unser Geheimnis! Wenn das nämlich platzen würde, dann würde sich ja keiner mehr anstrengen in den Himmel zu kommen. Also - keinem davon ein Wort – versprochen?

A: Versprochen!

 


"Was Jesus in der Hölle machte" im Roman

Kapitel 29 : Konya, der Prophet

 

Und dann erzählte mir Hanna von ihrer Freundschaft zu Ruth. Von ihrer Liebe zu dem viel jüngeren Mädchen, das nach dem Abi gegen den Willen ihrer Eltern mit Hanna zusammengezogen war.

„Nach zwei Jahren der Schock: Ruth hatte Brustkrebs. Du kannst dir vorstellen, wie das einschlug. Ruth hatte gerade einen Studienplatz an der Kunstakademie ergattert. Und jetzt musste sie ihr ganzes Leben umstellen. Eine Chemo nach der anderen. Ruth verlor ihr Haar, aber nicht ihren Lebensmut. Sie kämpfte, obwohl sie wusste, dass sie eine besonders aggressive Krebsvariante hatte. Der Kampf zog sich über eineinhalb Jahre hin. Erst die Hoffnung, dann der Rückschlag: Metastasen. Neue Chemo und wieder abwarten. Das Klammern an den Strohhalm. Ein paar Wochen sah es ganz gut aus und Ruth begann schon aufzuleben. Dann wieder der Rückschlag: Neue Metastasen. Chemo und Hoffen auf ein Wunder. Ich bin mit Ruth zu den besten Spezialisten und alternativen Heilern gefahren. Es half alle nichts. Ruth wurde immer schwächer und wusste irgendwann auch, dass sie den Kampf verloren hatte. Aber sie blieb sich bis zuletzt treu, machte ihre Witzchen, auch wenn es ihr noch so dreckig ging. Und sie sagte immer wieder, dass ihre Krankheit gewiss einen Sinn hätte. Sie leide vielleicht für jemand anderes und trage ein bisschen Schuld ab in der Welt. Sie war so tapfer, viel tapferer als ich. Vor allem am Ende, wo sie eigentlich nur noch unter Drogen stand und trotzdem unsägliche Schmerzen litt. Das Martyrium am Schluss zog sich über drei Monate hin.“

 

Hanna weinte.

 

Als sie wieder sprechen konnte, erzählte sie weiter.

„Eigentlich schien auch für mich mit Ruths Tod  alles zu Ende. Ich wollte mich umbringen und versuchte es auch. Im Krankenhaus kam ich dann halbwegs zur Besinnung, als ich sah, wie so viele um das Bisschen Leben kämpften, das ich wegwerfen wollte. Ich begann dann zu beten. Ich fragte Gott tausendmal, warum. Es hat mir zwar über diese Zeit geholfen, aber eine Antwort bekam ich nie.“

Ganz leise fuhr sie fort:

„Die Antwort habe ich erst über dich erfahren. Deshalb ging mir auch dein Aufsatz so nahe. Und deshalb war ich so enttäuscht über deinen Widerruf.“

Sie pausierte und sah mich mit einem Blick an, mit dem man eine Leiche hätte sezieren können.

„Und jetzt sag mir eines, Konya Koolman  – und wehe, du lügst mich an! Stimmt das mit dem Komplott zwischen Gott und dem Teufel? Glaubst du wirklich, dass Gott das Böse und damit das Leid in Auftrag gegeben hat?“

Hanna spielte natürlich auf meine Nacharbeit an. Und sie wollte mich jetzt beim Wort nehmen, so viel war mir klar. 

Aber obwohl ich mich beim Wort genommen fühlte, saß ich erst mal ratlos da. Meine Geschichte war ja erst die halbe Antwort auf die Frage gewesen. Sie erklärte, wie das Böse in die Welt hineinkam. Aber sie erklärte nicht wirklich, wie es daraus wieder verschwand. Und wer letztlich die Schuld dafür auf sich nehmen sollte. Und das war eigentlich die Knackfrage. Wenn ich sie nicht löste, dann hatten wir ein Problem mit Gott. Dann war Big Old Daddy im besten Fall ein Schummler, im schlimmsten Fall ein Verbrecher. Dann hatte er womöglich Hannas Freundin Ruth auf dem Gewissen. Und ich Hannas weitere Karriere als Religionslehrerin am Gymnasium.

 

„Ich frage dich, weil du doch einen Draht nach oben hast“, setzte Hanna nach. „Du stehst doch in Kontakt mit deinem Engel, nicht wahr?“

O.k., ich musste jetzt also Farbe bekennen. Jetzt ging es ans Eingemachte. Das war die Nagelprobe. War ich ein Scharlatan oder ein Weltenwanderer?

Ich fuhr also meine geistigen Antennen aus und sondierte das Terrain da oben. Vielleicht kam ja wirklich Hilfe aus dem Orbit, wie schon einmal.

Aber ich war nach zwei Flaschen Wein schon so bedüdelt, dass ich selber im Orbit kreiste. Das einzige, was mir einfiel, war, dass Jesus doch mal in der Hölle gewesen sein sollte. Und kein Mensch wusste, was er da eigentlich getan hatte, außer Adam und Eva nachträglich den Passierschein zurück nach Eden auszustellen. Vielleicht hatte das ja etwas mit Hannas Frage zu tun.

 

„Darf ich dir dazu nochmal eine Geschichte erzählen, Hanna?“, fragte ich. Ich fuhr volles Risiko. Ich hatte keine Ahnung, was ich ihr diesmal für eine Schote aufbinden würde.  

Hannas Augen leuchteten gleich auf wie Glühwürmchen, und sie rückte mit dem Stuhl ganz nahe vor mich hin.

„Ich lausche, großer Meister!“

„Also“, begann ich, nachdem ich mich fünfmal geräuspert hatte, um Zeit zu gewinnen, „auch Jesus war mal an dem Punkt, wo er den Glauben aufgab an alles. Das war, als er am Kreuz hing, und alle ihn verlassen hatten, außer denen, die es nicht besser wussten wie seine Mutter, Maria Magdalena und Johannes. Die hatten einfach Mitleid mit ihm. Alle anderen waren abgehauen, weil sie sich schämten, einem Hochstapler aufgesessen zu sein. Der Sohn Gottes, der die Sünden aller Menschen auf sich nehmen und der damit die Welt retten sollte, hing am Kreuz, verhöhnt und gedemütigt. In ein paar Stunden würde es aus sein mit ihm. Und aus sein mit allem, was er verkündet hatte von seinem liebenden Vater, von der Vergebung der Sünden, der Auferstehung der Toten und was er sonst noch alles versprochen hatte. Alle Hoffnung war dahin. Es war, als hätte man die Sonne ausgeknipst.

Als Jesus sein ganzes Lebenswerk zerstört sah, rief er. „Vater, Vater, warum hast du mich verlassen?“ Der Zweifel, ob es diesen Vater wirklich gab, war übermächtig geworden. Er war ein Gescheiterter. Seine Mission war am Ende. Sein Glaube, er sei Gottes Sohn, die größte Anmaßung aller Zeiten, war geplatzt wie eine Seifenblase.“

 

O.k., so weit wäre jeder gekommen. Das war leicht gewesen. Jetzt musste ich mir was einfallen lassen. Jesus in der Hölle. War bestimmt keine lustige Erfahrung für den Knaben, nach alledem, was er schon hinter sich hatte. Und so fuhr ich fort:

 

„Wenig später starb er. Und wie alle Menschen kam er ins Reich der Toten. Und das Reich der Toten war damals noch die Hölle, denn niemand hatte den Menschen bisher einen Weg gewiesen, wie sie da wieder raus kommen konnten. Sie waren unerlöst. Und Jesus Ankunft würde daran nichts ändern, denn auch er war nur ein Mensch und unerlöst.

Als Jesus dann in der Hölle war und die unermessliche Schar der Unerlösten und Verdammten sah und all das Leid und das Böse, das sich hier aufgetürmt hatte, da resignierte er vollends. Wie sollte er auch diese Bürde noch auf seine schwachen Schultern nehmen, die von der Sündenlast der auf der Erde lebenden Menschen schon hoffnungslos überfordert waren?“  

 

Hanna, die mir an den Lippen hing wie ein Kind der Oma beim Märchenerzählen, sah mich fragend an. So, als ob ich die Lösung schon wüsste. Aber ich hatte keinen Plan, wie es jetzt weitergehen sollte. Vielleicht musste Jesus sich erst mal registrieren lassen? Oder sich bei der Kommandantur melden? Wer hatte denn bloß nochmal das Kommando in der Hölle? Na logisch – Luzifer!

 

„Die Lösung des Rätsels kann nur die Begegnung mit Luzifer gewesen sein, Hanna. Luzifer stammte ja ebenfalls wie Jesus aus den höchsten Sphären. Er war der Erzengel gewesen, der Gott am nächsten stand. Und Luzifer hatte wie Jesus ebenfalls einen Auftrag. Er war derjenige, der die Schöpfung zwischen sich und Gott aufspannte, wo sich das große Kräftemessen zwischen Gut und Böse und der freie Wille der Menschen entfalten konnten. Aber davon wusste Jesus nichts. Die Sache war ja auf höchster Ebene vertuscht worden.“

 

Die Kurve hatte ich schon mal gekratzt. Jetzt musste ich die Beiden bloß noch aufeinander loslassen. Was Jesus anbetraf, so war mir klar, dass er kaum noch zu erkennen war, nach alledem, was er hinter sich hatte. Ich war schließlich nicht umsonst in „Die Passion Christi“ von Mel Gibson gewesen und hatte gesehen, was sie aus dem armen Kerl gemacht hatten. Und was Luzifer anging, so kam mir der Traum nach meinem Kollaps in der Schule zugute, wo ich ihm schon mal gegenübergestanden war. Der Kerl hatte mir ja fast leidgetan.

 

„Jesus also kam nach seinem Abstieg in die Hölle wie alle anderen gestrandeten Seelen zunächst zu Luzifer. Der erkannte den von der Kreuzigung und den Wundmalen entstellten Jesus natürlich nicht. Der Anblick ließ ihn übrigens kalt, denn er war völlig gefühllos geworden. Anders hätte er das Elend und die Schmach, die ihm sein Amt aufbürdete, gar nicht ausgehalten.

„Wer bist du?“

Jesus kannte Luzifer nur vom Hörensagen. Demnach war er einst der Erzengel gewesen, der Gott in der Rangordnung am nächsten stand. Soviel er aus den Überlieferungen wusste, musste das Luzifer irgendwie zu Kopf gestiegen sein, denn er hatte eine Rebellion angezettelt gegen seinen Herrn, war aber gescheitert und mit Schimpf und Schande samt einem Drittel der abtrünnigen himmlischen Heerscharen in die Hölle verbannt worden. Dort intrigierte er seitdem gegen Gott und den Schöpfungsplan, indem er die Menschen auf der Erde vom rechten Weg abzubringen suchte

Jesus betrachtete den Widersacher Gottes. Er besaß nichts mehr von seinem alten Glanz. Die Äonen, die er in der Hölle verbracht hatte, all das Böse, das in seinem Namen begangen worden war, hatten an ihm gezehrt. Er war klein, hässlich und unscheinbar – so unscheinbar wie manchmal auch das Böse ist, bevor es seine zerstörende Wirkung entfaltet. Jesus überkam ihn tiefes Mitleid mit dem Höllenfürsten. Er beschloss, noch einmal in seine Rolle als Erlöser zu schlüpfen, um dem armen Kerl vor ihm ein wenig Hoffnung und Aufmunterung zu schenken, so wie er es auf der Erde unzählige Male getan hatte. Manchmal hatte der Glaube an die eigenen Wunderkräfte ja tatsächlich etwas bewirkt. 

„Ich bin Jesus, der Sohn Gottes“, antwortete Jesus.

Das Hohnlachen Luzifers erfüllte die Gewölbe der unendlichen Finsternis und ließ die armen Seelen darin erschauern.

„Der Sohn Gottes?“, rief er. „Gott schickt seinen einzigen Sohn zu mir in die Hölle? Willst du mich verspotten?“

„Ich bin gekommen dich zu erlösen, Luzifer, Herr der Finsternis, und dir das Licht der Hoffnung zu bringen.“

Ein abermaliges Hohngelächter Luzifers war die Antwort.

„Mich erlösen? Wie willst du denn das anstellen, du armseliger Zimmermannssohn aus Nazareth?“

„Indem ich auch dein Kreuz auf mich nehme, Luzifer.“

Das Hohngelächter Luzifers brachte diesmal das Höllengewölbe fast zum Einsturz.

Mein Kreuz willst du tragen, Zimmermannssohn? Du kannst ja nicht einmal dein eigenes tragen! Du kannst dich ja nicht einmal selber erlösen! Und sowieso kommst du aus diesem Loch ohne mich gar nicht mehr raus!“

Jesus wusste, dass Luzifer Recht hatte. Er hatte sein Leben lang hochgestapelt und der Welt einen Bären aufgebunden von wegen Reich Gottes, und er als der Messias, der gekommen war, diese Welt zu retten. Er hatte Tausende um ihre Hoffnungen geprellt. Der Ort, wo er sich jetzt befand, war genau der richtige für ihn. Jesus wusste das. Er war am Ende. Als hätte er den K.O.-Schlag bekommen, brach er zusammen und lag wie ein Haufen Elend vor dem Höllenfürsten.“ 

 

Ich machte eine Pause und prüfte die Wirkung meiner Geschichte. Hanna sah etwas erstaunt drein. Das hatte sie wohl nicht erwartet. Ich musste der Story schleunigst den richtigen Dreh geben. Sonst waren am Ende alle verratzt. Und mein Schäferstündchen mit Hanna konnte ich mir ans Bein schmieren.

 

„Als Luzifer Jesus so daliegen sah in seiner ganzen Erbärmlichkeit, da packte ihn auf einmal das Mitleid mit dem Kerl. Für einen Moment fiel der Panzer der Gefühllosigkeit von ihm ab, der ihn schützend umgab. Und jetzt erinnerte sich wieder daran, wer er wirklich war. Er wusste plötzlich wieder alles über seinen Auftrag und welche Rolle er spielte. Er war ausgezogen, um die Schöpfung zwischen sich und Gott aufzuspannen, damit sich das große Drama um Gut und Böse entfalten und die Liebe des Allmächtigen in seiner ganzen Pracht offenbaren würde. Aber von dieser Pracht war wenig zu sehen. Im Gegenteil, es ging immer weiter bergab mit Gottes Schöpfung. Und er hockte in diesem Loch und musste mit ansehen, wie die Welt auf den Abgrund zutrieb. Ganz von alleine und ohne sein Zutun. Die Menschen hätten den Teufel eigentlich gar nicht gebraucht, sie waren sich selber Teufel genug. Er war nur der Sündenbock, auf den sie alle Schuld abwälzten. Die Menschen würden ihn nie mehr herauslassen, dessen war er sich sicher. Gott wahrscheinlich auch nicht, denn er hätte sonst sein Gesicht vor den Menschen verloren. Es sei denn, er fände einen anderen Sündenbock.

Und dann fiel Luzifer ein, dass der Herr ihm genau dies versprochen hatte.

Jesus würde kommen und sein Kreuz auf sich nehmen.

Jesus würde der Sündenbock sein.

Das war der Deal!

Zum ersten Mal seit Äonen verspürte Luzifer so etwas wie echte Freude. Er hüpfte sogar herum und schnalzte mit der Zunge, so dass sich die Unterteufel verwundert die Augen rieben. Was für eine Missetat hatte der Meister jetzt wohl wieder ausgeheckt?

Luzifer reichte aber nur Jesus die Hand und half ihm auf die Beine. Dann klopfte er ihm auf die Schulter, dass er fast wieder umgekippt wäre, und sagte er mit der größten Unschuldsmiene:

„Na gut, Nazarener, abgemacht. Du darfst mich erlösen. Und ich lass dich dafür laufen.“ 

Jesus staunte nicht schlecht über den plötzlichen Sinneswandel Luzifers.

„Du wunderst dich, weil du weißt, dass der Teufel nur aus Eigennutz handelt, nicht wahr?“

Jesus nickte ganz leicht mit dem Kopf.

„Ich gebe zu, da ist was dran. Aber im Grunde sind wir beide Gewinner bei diesem Deal. Du wirst endlich erfahren, wer du wirklich bist, und ich werde endlich der sein, der ich wirklich bin.“

Jesus sah Luzifer argwöhnisch an.

„Du Knecht der Hölle willst mir sagen, wer ich bin?“

„So ist es, Jesus. Ich gebe dir deinen Glauben wieder zurück. Bei den Menschen hast du ihn verloren, aber in der Hölle findest du ihn wieder.“

Jesus war immer noch im höchsten Grad misstrauisch, aber er wurde jetzt doch neugierig. „Dann sprich, Luzifer. Was hast du mir mittzuteilen, was ich noch nicht weiß?“

Luzifer nahm Jesus beiseite und senkte seine Stimme.

„Ich verrate dir, was noch kein Mensch weiß. Ich verrate dir, dass ich kein abtrünniger Erzengel bin, wie es geschrieben steht. Ich bin hier, um das Werk deines Vaters zu krönen. Er selbst hat mich ausgesandt als Statthalter für alle die, die sich von Gott abwenden, um ihren eigenen Weg zu suchen und sich dabei versündigen. Er tat es aus Liebe zu seinen Geschöpfen, denen er die Freiheit der Selbstbestimmung nicht verweigern wollte, auch auf die Gefahr hin, dass diese Freiheit sich gegen sie wendet und sie in meine Knechtschaft geraten.“

Jesus geriet über diesen Worten ins Wanken, so dass Luzifer ihn am Arm festhalten musste.

„Du stehst im Bund mit Gott?“

„Da staunst du, was?“

„Aber warum weiß ich nichts davon? Warum hat mir das keiner gesagt?“ Jesus blickte auf die Wundmale an seinen Händen und Füßen und seinen geschundenen Körper. „Ich hätte mir das alles ersparen können.“

Luzifer hob beschwichtigend die Hand.

„Was dich betrifft, Jesus von Nazareth, so darf ich dich trösten und dir den Glauben an deine Mission zurückgeben. Du bist wirklich der Sohn Gottes!“

Jesus jubelte innerlich über diese Nachricht, doch zugleich war er etwas befremdet, sie ausgerechnet vom Fürsten der Hölle zu erfahren.

„Aber was mache ich dann hier? Warum bin ich nicht zu meinem himmlischen Vater aufgefahren?“ 

„Weil du hier noch etwas zu erledigen hast, Jesus. Du bist wirklich hier, um mich zu erlösen. Du bist hier, um mich zu erlösen von der Schmach, für das Böse zuständig zu sein. Du bist hier, um die Sünden der Welt auf dich zu laden. Du bist jetzt der Sündenbock. Du bist an meine Stelle getreten!“

Und wieder erscholl Luzifers grässliches Gelächter und brachte die Pforten der Hölle ins Wanken.

Jesus hielt sich die Ohren zu. Erst allmählich begriff er die ganze Ungeheuerlichkeit der Botschaft, die Luzifer ihm anvertraut hatte. Sein Vater war der Anstifter von allem Bösen und im Bund mit dem Teufel, der es stellvertretend für ihn verwaltete. Und niemand wusste davon!

Als Luzifer sich ausgeschüttet hatte vor Lachen, wandte Jesus sich noch einmal an ihn.

„Eine Frage noch, Luzifer. Warum hat niemand etwas von eurer Abmachung erfahren? Warum wirst du in den Schriften als der Urheber des Bösen genannt?“

Luzifer blickte unmutig auf Jesus und in seiner Stimme schwang versteckter Groll, als er sagte:

„Kannst du dir das nicht selbst zusammenreimen, Jesus? Dein Vater wollte seine reine Weste bewahren. Sonst wäre ja er Zielscheibe aller Klagen derer geworden, die unter dem Bösen zu leiden hatten. Er konnte nicht ein Gott der Liebe und des Bösen sein – das hätten die Menschen nicht begriffen. Deshalb musste ich dafür herhalten. Und nun wirst du dafür einstehen, sein Sohn, den er dafür geopfert hat. Und der nun die Aufgabe hat, mich von meiner Schuld zu erlösen und sie dem zurückzubringen, der dafür zuständig ist.“ 

Jesus begann erneut zu wanken, als wäre er überladen mit seiner neuen Last. Vielleicht war er auch einfach müde. Luzifer bemerkte es.

„Am besten, du ruhst dich erst mal aus und kommst wieder zu Kräften. So kann ich dich nicht hochlassen. Die meinen ja sonst, ich habe Gott-weiß-was mit dir angestellt!“

Und er brachte Jesus in sein Ruhegemach, wo er drei Tage lang schlief wie ein Stein. Anschließend ging es Jesus wieder besser und er war bereit, seine Reise nach oben anzutreten. Vorher aber verabschiedete er sich noch vom Fürsten der Hölle.

„Leb wohl, Luzifer, und vielen Dank für deine Gastfreundschaft. Ich habe viel gelernt bei dir hier unten. Ich weiß jetzt, dass du nur der Statthalter des Bösen bist und nicht das Böse selbst. Ich weiß jetzt auch, dass die Hölle nicht der Endpunkt ist. Sie ist nicht der Ort der ewigen Verdammnis, aus dem es kein Entrinnen und keine Wiederkehr gibt. Sie ist ein Durchgangstadium, ein Ort der Läuterung und Erneuerung, so wie der Tod nur eine Pforte ist, die zu den höheren Sphären führt und zu Gott. Ich werde alle diejenigen, die ohne eigene Schuld hierher geraten sind, noch heute mit mir führen, damit sie Gott von Angesicht zu Angesicht schauen und der ewigen Freude teilhaftig werden können.“

Luzifer merkte, dass Jesus wieder der alte Hochstapler war, denn ohne den Deal mit ihm wäre er ja nie und nimmer rausgekommen. Aber er ließ ihn gewähren, denn schließlich brauchte er den Typen ja noch. Jesus musste dem Alten da oben doch noch die ganze Schuld an der missratenen Schöpfung zuschieben.

„Dir aber gebe ich das Versprechen, dich nicht auf ewig darben zu lassen in der Finsternis“, fuhr Jesus fort. „Ich hinterlasse dir und allen, die dir untertan sind, als Zeichen dafür das Licht der Hoffnung. Es wird leuchten bis zum Ende aller Tage als das Versprechen meines Vaters, dass niemand aus seiner Schöpfung fallen kann, nicht einmal der Fürst der Finsternis. Es ist das Licht der Liebe, der Liebe meines Vaters, die größer ist als alles, größer als der Tod sogar.“

Luzifer beugte sein Haupt vor Jesus.

„Ich bin der Knecht des Herrn bis zum Ende der Tage. Das habe ich geschworen. Du aber wirst die Schuld auf dich nehmen, die Schuld an all dem Bösen, das begangen wurde, um seinen Namen zu verherrlichen. “

Da gab Jesus ihm seinen Segen. Und er segnete alle armen Seelen an diesem Ort. Nachdem das Licht der Hoffnung neu entzündet war, stieg er dann aus der Hölle auf und nahm alle die ohne Schuld in die Hölle Verbannten mit sich, damit sie ihr rechtmäßiges Erbe antreten und ihren Anteil an der ewigen Seligkeit erhalten würden. Jesus kehrte von den Toten zurück, hatte den Tod überwunden und damit alle Zweifel zerstreut an seiner Mission und seinem Anspruch der Gotteskindschaft. Jesus war der Sohn Gottes, der gekommen war, die Welt vom Bösen zu erlösen. Damit war er der Sündenbock. Aber spätestens  als sein Vater ihn in den Himmel aufnahm und ihn zu seiner Rechten sitzen ließ, konnte sich jeder denken, wer der eigentliche Urheber von allem war.“

 

Hanna schwieg eine Weile, nachdem ich geendet hatte. Sie guckte mich dabei die ganze Zeit an, als hätte ich ihr gerade einen 1000-Euro-Schein angedreht. Schließlich sagte sie:

„Du bleibst also dabei. Es war wirklich Gott, der das Böse in Auftrag gegeben hat.“

Ich hatte es geahnt. Der Schuss war nach hinten losgegangen. Die Story hätte ich mir besser sparen können. Ich versuchte eine letzte Ehrenrettung von Big-Old-Daddy.

„So würde ich es nicht formulieren. Er hat es nur zugelassen, Hanna, mehr nicht. Er hat es zugelassen in dem Moment, als er uns die freie Wahl gab, bei ihm zu bleiben oder von ihm zu gehen. Der Preis dieser Freiheit ist das Böse, das dadurch möglich geworden ist.“

Hanna fasste mich bei den Händen.

„Und wie weit geht diese Freiheit? Können wir Gott verlieren?“

„Wir können uns verlieren, aber Gott nie. Wir stammen aus Gott. Und Gott ist der Teil in uns, der uns rettet. Die Gerechtigkeit Gottes wird uns richten, aber seine Gnade wird uns retten. Sie wird uns zurückholen. Keiner wird verloren gehen, denn dann würde Gott selbst verloren gehen.“

Mann, hoffentlich wurde das nie irgendwo gedruckt. Ich war der Top-Häretiker der Kirchengeschichte. Ich hatte Luzifer vom ersten Platz verdrängt.

Hanna war aber noch nicht zufrieden.

„Und das Leid, Koko, die Schmerzen all der Unschuldigen – was ist damit?“

„Das Leiden hat seinen Sinn, Hanna. Es besitzt eine verwandelnde Kraft und macht uns bereit, die göttliche Liebe ganz zu erfahren. Jesus hat es uns vorgelebt.“

Hanna kullerten Tränen über die Wangen.

„Wird es denn jemals aufgewogen?“

Ich beugte mich vor und flüsterte Hanna ins Ohr:

„Das ist das Geheimnis Gottes, das eigentlich niemand erfahren darf, denn sonst könnte unser Bemühen erlahmen: Drüben wird all unser Leiden aufgewogen. Tausendfach, Hanna. Wie eine Träne, die sich im Ozean der Freude verliert. “

Hanna blickte mich an, als sei ich der gestaltgewordene Jesus.

„Woher weißt du das eigentlich alles? Kommt das wirklich von drüben?“

 

O Hanna, wenn du geahnt hättest, was für ein Schwadronierer des Herrn vor dir saß. Trotzdem dankte ich im Stillen Sugarpuss und allen da oben, die mir Beistand geleistet hatten. Und der inspirierenden Kraft der Reben.  

 

Jeder weiß es“, sagte ich. „Die meisten lassen dieses Wissen bloß nie zu. Aber wir tragen es alle ganz tief in uns. Ohne dieses Wissen wären wir sicher nicht in der Lage, auch nur eine Minute zu leben.“

Hanna drückte mir einen Kuss auf den Mund.

„Du bist ein Schatz, Koko“, flüsterte sie. „Du bist ein Schatz unter den Menschen, weißt du das eigentlich?“

Ich wusste, dass Hanna nur eine andere Lesart für das Wort „Freak“ gewählt hatte. 99 Prozent der Menschen, die bei normalem Verstand waren, würden meine Auslassungen eben als total verrückt bezeichnen. Normale Menschen glaubten an einen Gott, der gut war. Oder an gar keinen. Aber sie glaubten nicht an einen Gott, der mit dem Teufel im Bund war. Man musste ja wohl ein Spinner sein, um so was zu glauben. Oder ein Weltenwanderer. Aber vielleicht gehörte Hanna auch irgendwie zur Spezies der Freaks. Ich war mir übrigens ziemlich sicher, dass es sich so verhielt, sonst wäre ich nicht bei ihr gelandet. 

 


 

"Jesus am Kreuz", von Armin-Leander
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