Tagebuch eines Weltenwanderers
Tagebuch eines Weltenwanderers

"Freaks" (von Konya)

Dämon an der Kathedrale von Narbonne

„Ein Freak [fɹi:k] (aus dem Englischenfreak: „Krüppel, Verrückter, Unnormaler“ aber auch „Begeisterter“) ist in der heutigen Umgangssprache meist eine Person, die eine bestimmte Sache, zum Beispiel ihr Hobby, exzessiv bzw. über ein „normales“ Maß hinaus betreibt, diese Sache zum Lebensinhalt macht oder sich zumindest mehr als andere darin auskennt (beispielsweise ein Computerfreak). Lebensweise bzw. Lebensstil und Lebensführung eines Freaks können sich von der eines Durchschnittsbürgers unterscheiden und bewusst individuell, unangepasst, anders oder „flippig“ sein.“  (Aus Wikipedia)  

 

Jetzt wisst ihrs, Leute, was ich alles bin oder nicht bin. Also haltet mich nicht für den Glöckler von Notre Dame oder Frankensteins Monster oder so was in der Art. Ich bin kein Krüppel im eigentlichen Sinn, sondern bloß geistig oder moralisch. Naja, richtig verrückt bin ich natürlich auch nicht, oder nur phasenweise, wenn mich die Mädels mal so richtig am Wickel haben. Die Sache, in die ich mich wirklich hineinsteigere, ist aber nicht die, an die ihr jetzt wahrscheinlich denkt. Es ist viel schlimmer. Ich bin ein Weltenwanderer-Freak, und das ist das Schlimmste, was man sein kann, weil man nämlich dann nirgendwo richtig zu Hause ist und man nie so richtig weiß, ob das, was gerade Sache ist, wirklich Sache ist. Apropos Sache: Wie ihr beim Lesen rasch herausfinden werdet, ist die bestimmte Sache, die quasi mein Lebensinhalt wird, der Big-Old-Daddy-Case und seine Aufklärung. Man muss ja schon ein Spinner sein, um dem lieben Gott in die Karten zu gucken und dann auch noch schlauer sein zu wollen als die Bibel und die kirchlichen Lehrschriften. Aber so ist es nun mal – ich bin versessen darauf, die ganze Wahrheit herauszufinden, und das ist freakig genug in einer Welt, in der sich die meisten mit Halbwahrheiten begnügen.

 

Das Thema "Freaks" im Roman

"Freakworld" von Karoline Scholl

Kapitel I

 

Ich bin ein Freak. Dieses Buch könnte genauso gut  „Tagebuch eines Freaks“ heißen. Oder „Memoiren eines Freaks“, denn im strengen Sinn ist es gar kein Tagebuch. Ich habe die Bezeichnung  „Weltenwanderer“ bloß gewählt,  weil das wohl eindeutig die freakigste Seite an mir ist.

Oder findet ihr es vielleicht nicht gruslig, wenn ein Mensch seinen Bewusstseinszustand wie andere Leute die Straßenseite wechseln kann, mit seiner toten Großmutter plaudert, in der Hölle ein- und ausgeht oder seinem Engel einen Besuch abstattet als wäre das die normalste Sache der Welt?

Nun, ich bin so ein Mensch.

Ich bin ein Jenseitsfreak.

Ich bin der lebende Beweis dafür, dass es (mindestens) noch eine andere Welt gibt.

Eigentlich müsste ich eine Berühmtheit sein wie der alte Jesus oder Buddha oder wenigstens Juri Gagarin und in den Talkshows aller Herren Länder herumgereicht werden.

Aber das Gegenteil ist der Fall.

Man nimmt mich nicht ernst. Man ignoriert mich. Man hält mich für einen Spinner.

Ich war sogar schon beim Psychiater deswegen. Der hat an mir so ziemlich jeden Test veranstaltet, den die Typen für solche Fälle parat haben. Aber wirklich herausgekommen ist dabei nichts, außer dass mein IQ Durchschnitt ist und ich an einer schwachen Form von ADS (Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom) leide.

Und obwohl ich eigentlich ganz normal bin (denn ADS zu haben ist bei den Jungs in meinem Alter ganz normal), werde ich von den meisten Leuten nicht für voll genommen.

In meiner ehemaligen Klasse nannten sie mich „Hirni“ oder „Schizo, als hätte ich einen Sprung in der Schüssel.

„Na, Schizo? Was geht ab auf Wolke Sieben? Kommt der Weltuntergang noch rechtzeitig vor der Mathe-Schulaufgabe?“

„He, Hirni, kannst du mir mal die Lottozahlen von nächster Woche channeln?“

Das waren so die Sprüche, mit denen sie mich vollballerten.

Und so kam es, dass ich immer auch der Klassenfreak war. Kein „Nerd“ wie mein früherer Banknachbar Rappu, der Einsteins Spezielle Relativitätstheorie schon in der neunten Klasse auf eigene Faust erweitert hat, sondern ein „Idi“, also ein echter Idiot.

Ihr könnt euch vorstellen, dass ich schon von daher kein besonders geselliges Leben führe.

 

Aber ich bin noch auf andere Arten freakig.

 

Ich bin zunächst mal ein Unauffälligkeitsfreak. Als Dreizehnjähriger war ich so unauffällig, dass die Mädchen nicht einmal kicherten wie bei den anderen Losern in meiner Klasse, wenn ich auf dem Pausenhof an ihnen vorbeiging. In meiner Anwesenheit bohren sich die Leute auch heute noch ungeniert in der Nase. Oder sie lassen vor mir die Tür zufallen. Nicht aus Bosheit, sondern weil sie mich einfach nicht wahrnehmen.

Ich könnte als Zauberer auftreten. Meine Nummer wäre zwar simpel, aber sensationell. Ich würde einfach auf der Bühne stehen, und nach einer Weile würden mich die Leute nicht mehr wahrnehmen und denken, ich hätte mich weggezaubert.

Manchmal halte ich mich selbst schon fast für ein körperloses Wesen.

Immer wieder mal krame ich meinen Ausweis heraus, um mich zu vergewissern, dass es mich wirklich gibt. Und wenn ich dann das Lichtbild anschaue von dem Typen, der aussieht wie Superman nach seiner Verwandlung in Gonzo von der Muppetshow, dann werde ich erst recht unsicher. Vielleicht bin ich ja aus Versehen in diese Welt gebeamt worden. Und weil ich so unauffällig bin, haben sie drüben vergessen, den Rückholknopf zu drücken. Das würde zumindest erklä­ren, warum ich in dieser Welt nicht so richtig heimisch werde und immer wieder mal in irgendwelchen Zwischenwelten lande.

Das einzige, was mir hin und wieder eindringlich vor Augen führt, dass ich diese Realität noch nicht verlassen habe, sind die Fettnäpfchen, in denen ich dauernd lande.

 

Ich bin ein Fettnäpfchenfreak. Wenn es irgendwo im Umkreis von zehn Kilometern ein Fettnäpfchen gibt, dann könnt ihr sicher sein, dass ich reinlatsche. Ich habe eine Spürnase für Fettnäpfchen. Ich könnte bei der CIA locker eine Anstellung als Fettnäpfchen-Detektiv kriegen, wenn es so was gäbe. Und mit meiner phänomenalen Fähigkeit ist es kein Wunder, dass die Leute einen Bogen um mich machen, wann immer ich ihnen in die Quere komme. Und trotzdem schaffe ich es immer wieder, welche von ihnen mit reinzuziehen. Die Liste meiner Opfer ist länger als die der verbotenen Bücher im Vatikan. Sie beginnt mit meinem Dad und meiner Schwester, die ich beide aus der Familie rausgedrängt habe. Meine prominentesten Opfer sind zwei Lehrerinnen, die hauptsächlich wegen mir den Schuldienst quittierten. Und am Ende wird die Sache wirklich übel, weil ich Vollpfosten mich zwischen zwei Mädels nicht entscheiden konnte und ein wirkliches Schlamassel anrichtete. 

 

Ich bin ein Jammerfreak. Diese Welt wird in vieler Hinsicht nicht meinen Ansprüchen gerecht. Als sie konzipiert wurde, stand ich definitiv nicht auf der Liste der möglichen Geschöpfe. So gesehen bin entweder ich ein evolutionärer Planungsfehler oder die Welt ist ein Auslaufmodell. (Im schlimmsten Fall hängt beides zusammen und die Welt geht wegen mir zugrunde.) In allen Fällen habe ich ziemlich schlechte Karten. An guten Tagen kann ich mich darüber aufregen und mir den Rotz von der Seele reden. Aber meistens zieht mich das alles ziemlich runter. Ich sage mir zwar immer wieder, ich sei zu gut für diese Welt, aber die Liste der Beweise, dass es sich genau umgekehrt verhält, wächst mit jedem Tag. Darum gehe ich immer öfter auf Tauchstation und fahre die Depri-Tour. Oder ich jammere euch die Hucke voll und flenne mir einen ab. Ich bin nämlich eine waschechte Heulsuse. Ich würde den ganzen Heulsusen bei Germany´s Next Topmodel locker das Wasser reichen. Rechnet also nicht mit einem Stück Erbauungsliteratur, falls ihr jetzt überhaupt noch weiterlesen wollt.   

 

Bei alledem bin ich auch noch ein Sex-Freak. Ich bin kein Perversling oder Weltrekordhalter im Dauermasturbieren, das nicht. Aber ich verliere unweigerlich die Kontrolle über mich, wenn ich mit weiblichen Reizen in irgendeiner Form konfrontiert werde. Dann fühlt sich mein Unterleib an, als wäre er mit heißer Schokolade gefüllt, und meine Sehschärfe schrumpft auf minus sieben Dioptrin, so dass mir jede Sumpfkrähe plötzlich als gestaltgewordene Aphrodite erscheint. Und dann lasse ich mich manchmal zu Sachen hinreißen, die ich bei klarem Verstand nur als abartig bezeichnen würde.

Das könnte auch der Grund dafür sein, dass dieses Buch an einigen Stellen ein bisschen versaut ist. Jugendliche unter 16 Jahren, Moralapostel, Sittenwächter, Bibelforscher und Leute, die  allergisch sind auf Schweinekram - legt das Buch lieber gleich weg! Dies ist die letzte Warnung – wenn ihr jetzt weiterlest, dann seid ihr selber schuld!

 

Ihr wundert euch vielleicht, wie das alles zusammen­geht, was ich da an Freakvarianten vereine  – aber es ist so. Ich bin ein asozialer, autoaggressiver, erotomanischer Heiliger im Auftrag der Apokalypse. Ich bin Ausgestoßener und Getriebener in einem. Und wahrscheinlich verdiene ich die Bezeichnung Freak deshalb sogar wirklich.

 

Wenn ihr euch jetzt fragt, was daran so witzig oder cool sein soll, ein Freak zu sein und dann auch noch ein Buch darüber zu schreiben, dann sage ich euch: Nichts.

Es ist nicht im Mindesten cool oder witzig. Im Gegenteil. Ein Freak zu sein ist das Übelste, was einem widerfahren kann.

O.k., werdet ihr fragen, ist das Buch dann wenigstens zum Heulen? Oder tragisch?

Auch da muss ich euch enttäuschen, Leute.

Wenn einer von einem Fettnäpfchen ins andere stolpert, seiner Schwester beim Songwettbewerb als Transe die Show vermasselt, den eigenen Dad in der Besenkammer mit seiner Schlampe beim Pimpern entdeckt und ihn damit ans Messer liefert, wenn einer mit seinem Schutzengel ein Treffen hat und dann nichts Besseres weiß, als auf ihre Möpse zu starren, wenn einer sich in seine Religionslehrerin verknallt und ihr dann auch noch einen Heiratsantrag macht – naja, dann ist das vielleicht abgedreht, aber tragisch ist es nicht.

 

Ich finde diese Type da, von der im Buch dauernd die Rede ist, eigentlich nur freakig.

Und einen Freak kann man nicht einmal bedauern. Über einen Freak kann man bestenfalls den Kopf schütteln.

Aber ein Kopf-Schüttel-Buch ist außer für Parkinsongeschädigte ziemlich schwer zu lesen und wird kaum jemals in die Top-Seller-Liste kommen. 

 

 

"Monster" von Tamara

 

Kapitel 5: Kiki entdeckt den Freak in Konya

 

Und dann schlug Kiki plötzlich die Augen auf und sah mich an. Sie sah mich an, als hätte sie mich die ganze Zeit beobachtet und wüsste genau Bescheid, was mit mir abging. Ich fühlte mich voll ertappt und kriegte eine Birne rot wie Tomatenpampe. Das machte die Sache natürlich nur noch schlimmer, denn jetzt wusste Kiki, dass sie mich ertappt hatte, und ließ mich erst recht nicht mehr frei mit ihrem Blick. Sie sah mich an, als wollte sie mich mit ihren Augen röntgen oder so was.  Sie forschte mich bis in die tiefsten Tiefen meiner Seele aus. Was sie da finden würde, wollte ich lieber gar nicht wissen. Wahrscheinlich würde sie jetzt gleich schreiend davonlaufen.

Doch Kiki lief nicht davon. Stattdessen grinste sie mich an. Nicht einmal hämisch oder so, sondern richtig kumpelhaft und ein bisschen triumphierend. Und da wusste ich, dass Kiki mich in dem Moment durchschaut hatte. Sie hatte entdeckt, was für ein Freak ich war. Nicht nur als Transe und wegen dem Fummel, den ich trug. Sondern wegen dem Freak, der ich wirklich war. Deswegen hatte sie sich von Anfang an für mich interessiert. 

Und mir war klar, dass sie mich von da an in der Hand hatte. Sie war mir auf die Schliche gekommen und wusste, dass sie mich bei meinem Freak packen konnte, wann sie wollte. Sie konnte das, weil sie selber einer war. Kiki war ein Freak wie ich. 

 

 

Kapitel 19: Die Freakbrille

 

Endlich ging die Tür auf. Wie von selbst. Die Mädchenstimme vom Band von vorhin säuselte „Bitte eintreten!“, als sei dies die Eintrittskarte zum Paradies. Ich rappelte mich auf, trottete zur Tür und schloss sicherheitshalber die Augen. Ich hatte echt Schiss. Ich konnte mir meinen Schutzengel nur als Freak vorstellen. Als einen Monsterfreak, der mir mal so richtig die Leviten lesen würde.

„Nun komm schon rein“, sagte eine Mädchenstimme. Ich beschloss, auf volles Risiko zu gehen und die Augen zu öffnen.

Ich weiß bis heute nicht, wie ich zu dem Stuhl kam, der für mich bereitstand. Ich muss die fünf Schritte dorthin in Trance getan haben. Vielleicht hatte ich auch einen Filmriss. Jedenfalls kollabierte ich regelrecht auf dem Stuhl. Aber immer noch starrte ich das Himmelsgeschöpf an, das mit einen fragenden Lächeln hinter dem Schreibtisch saß.

 

Ihr werdet jetzt sicher denken, dass ich wieder mal meinen rosarot vernebelten Blick draufhatte, der aus jedem Moorhuhn einen Paradiesvogel macht, sobald ich den Reizen des anderen Geschlechts ausgesetzt bin. Aber ich schwöre euch, dass ich wirklich dem hinreißendsten Wesen in Big Daddys großer Schöpfung gegenüber saß. Ich konnte meinen Blick gar nicht mehr abwenden und fühlte mich, als ob ich bekifft wäre oder so was. Was mich zusätzlich verwirrte, war, dass dieses süße Geschöpf mir irgendwie bekannt vorkam, ich aber nicht auf die Reihe brachte, woher. Zuckerpüppchen hatte hellblonde, nach hinten gebundene Haare, ein ziemlich schmales Gesicht mit einer süßen kleinen Stupsnase und einen Mund mit Lippen, wie sie sich die Filmdiven spritzen lassen, um besser rüberzukommen. Nur, dass diese Lippen garantiert ungespritzt waren. Das Schönste aber waren ihre Augen. Sie toppten alles. Sie waren einfach himmlisch. Groß wie Zweieurostücke und schwarz, wie ich noch nie welche gesehen hatte. Das heißt, sie waren nicht ganz schwarz, sondern es lag so ein Schimmer drin, als hätte jemand Goldstaub reingestreut. Auch wenn es geschwallt klingt, aber in diesen Augen hätte ich mich verlieren können. Auf Nimmerwiedersehen.

 (…)

 Etwas genervt verstaute Sugarpuss ihre Riesenbabies wieder in ihrem Top und ging an ihren Schreibtisch. Während sie vornübergebeugt in einer der Ablagen kramte und ihre Zwillinge zur Draufsicht darbot, durchfuhr mich eine letzte Hitzewallung wie Adam und Eva das flammende Schwert des Erzengels Gabriels bei der Vertreibung aus Eden. Schließlich reichte Puss mir eine Brille. Eine mit ziemlich dicken Gläsern, wie sie unten auf der Erde die Leute unter zehn Prozent Sehvermögen tragen. Ich hatte keine Ahnung, was das sollte. Ich brauchte keine Brille. Meine Augen waren scharf wie Meerrettich.

„Probier´s mal damit. Manchmal hilft es ja.“

Ich setzte das Ding auf und sah zunächst mal gar nichts. Erst allmählich kristallisierten sich die Konturen des Zimmers und dann von Sugarbabe schemenhaft heraus. Nachdem ich eine Weile heftig mit den Augen gezwinkert hatte, wurde sie langsam scharf. Genaugenommen aber irgendwie auch nicht. Durch die Brille sah Sugar aus wie eine ganz normale Bürotucke, trug flache Schuhe, einen langen grauen Flanellrock und einen Blazer von der gleichen Farbe. Darunter hatte sie eine weiße Hemdbluse an. Von ihren Oschis war so gut wie nichts mehr zu sehen. Nur ihre Augen waren die gleichen geblieben.

„Na? Wie sehe ich jetzt aus?“, fragte Puss.

„Anders“, brummte ich, weil mir das Wort „besser“ einfach nicht über die Lippen kam.

„Warum sagst du nicht, dass ich dir vorher besser gefallen habe?“

Sugar konnte offenbar Gedanken lesen.

„Stimmt“, seufzte ich.

Sie schüttelte den Kopf.

„Das hab ich mir gedacht. Du solltest dich was schämen!“

Tu ich aber nicht, dachte ich und versuchte mir wehmütig in Erinnerung zu rufen, was sich unter Sugar­babes Bluse verbarg. Laut fragte ich:

„Was ist das für eine Brille?“

„Eine, die die Wirklichkeit zeigt, wie sie ist, für diejenigen, die sie verzerrt wahrnehmen. Sie kann auch gedankliche Fehleinstellungen korrigieren. Wir nennen sie Freakbrille. Du hast eine für besonders schwere Fälle.“

Ich war kein schwerer, ich war ein hoffnungsloser Fall. Das hätte Pussi eigentlich wissen müssen.

„Darf ich die Brille wieder abnehmen? Sie tut meinen Augen weh.“

Das stimmte wirklich. Außerdem sah Püppchen durch die Brille viel kleiner aus als in Wirklichkeit und irgendwie auch etwas unscharf. Und zwar wirklich unscharf. Ich schwöre, dass es so war. Ich fuhr gar nicht so besonders ab auf ihren Teeniefummel, falls ihr das glaubt. Sie hätte sich von Kopf bis Fuß verschleiern können, wenn sie nur ihre Augen frei gelassen hätte. Das hätte mir gereicht, im Ernst. Ich hätte in ihren Augen versinken können.

Sugar schüttelte den Kopf, grinste aber verstohlen.

„Du solltest echt mal zum Augenarzt gehen, Junge. Der könnte dir vielleicht den Star stechen.“

„Mach ich. Aber kann ich jetzt diese Panzergläser wieder abnehmen? Ich komm mir so behindert damit vor.“

Sugarpuss seufzte.

„Meinetwegen. Aber vielleicht solltest du dich damit abfinden, dass du auf eine gewisse Weise wirklich behindert bist.“

Ich nahm die Brille ab und atmete auf. Sugarbabe saß wieder in ihrer alten Pracht vor mir. Wenn das meine Behinderung war, dann konnte ich damit leben.

 

 

Kapitel 23: Big Old Daddy und Konyas Freaks

 

Als ich am nächsten Vormittag aufwachte, erfuhr ich von Julio, der die ganze Nacht Krankenwache an meinem Bett geschoben hatte, dass sie Kiki tatsächlich nach längerer Suche mit der Wärmekamera gefunden und rausgezogen hatten. Sie befand sich auf der Intensivstation im Zentralkrankenhaus in Civitavecchia und war völlig unterkühlt, aber die Ärzte meinten, dass sie durchkommen würde.

 

Als Julio mir das erzählte, brach ich in Tränen aus und schickte ein Dankgebet zum Himmel. Es war ein Gebet, wie ein Gebet wahrscheinlich sein soll, wenn alles ganz gut läuft. Ich war so voll von Dankbarkeit, dass ich Big Daddy einfach sehen musste. Und ich bekam wirklich einen Termin bei ihm. Big Old Daddy bat mich zu sich rauf.

Und dann stand ich vor ihm, ob ihr es glaubt oder nicht.

Ich, Konya Koolman, der König der Freaks, stand vor Big Boss höchstpersönlich.

Er wirkte wie ein ganz normaler Mensch und sah ein bisschen aus wie Morgan Freeman in „Bruce Allmächtig“. Aber mir war natürlich klar, dass es sich nur um seine Miniaturausgabe handelte. Er hatte sich auf meinen Level runtergezoomt, sonst hätte ich nicht mal über die Kanten seiner Schuhsohlen geblickt 

Ich sagte ihm, dass ich ihm das mit Kikis Rettung nie vergessen würde. Er drückte mir sogar die Hand, obwohl er genau wusste, wen er vor sich hatte und was für ein Schweinehund ich war und alles. In dem Moment zählte das alles nicht. Es zählte nur, dass Kiki am Leben war und ihre Rettung an ein Wunder grenzte. Von meiner Rettung sagte ich gar nichts, aber Big Daddy sah mich an, und da wusste ich schon, dass er auch dahinter steckte. Mir wurde in dem Moment klar, dass er eigentlich hinter allemsteckte, was in meinem Leben bisher gut gelaufen war, auch wenn das noch nicht allzu viel war. Ich versprach Big Daddy als Dank dafür, dass ich mich bessern und alles das aufschreiben wollte, was er für mich getan hatte. Das war dann später auch einer der Gründe, warum ich dieses Tagebuch angefangen habe.

 

Eigentlich wollte ich Big Old Daddy dann ja noch wegen der Sache da fragen, ihr wisst schon, dem Big-Old-Daddy-Case. Aber in dem Moment, wo mir das einfiel, war mir schon klar, dass die Frage im Moment noch nicht dran war. Das heißt, die Frage war eigentlich die ganze Zeit dran, aber die Antwort würde ich jetzt noch nicht kriegen, sondern erst später. Ich musste sie mir irgendwie erst verdienen. Zumindest interpretierte ich Big Daddys Augenzwinkern so. Das hieß aber auch, dass ich noch ein paar Lektionen vor mir hatte. Ich hoffte bloß, dass meine nächste Lehrmeisterin nicht Kiki sein würde.

 

Und dann dachte ich über die Lektion nach, die ich gerade hinter mir hatte. Zunächst kam es mir so vor, als ob ich eine Turbo-Lektion in Rückwärtsentwicklung durchgemacht hätte, aber Big Daddy bat mich, doch mal genauer hinzusehen. Und da entdeckte ich zumindest zwei Dinge, die mir weiterhelfen konnten. Erstens, dass Big Daddy wohl nichts gegen die Lust an sich hatte und nichts dabei fand, dass man es aus Liebe miteinander tat, auch wenn man nicht verheiratet war. Er war mir zumindest nicht böse deswegen, das spürte ich. Aber er ließ mich wissen, dass die Lust, die wir dabei erlebt hatten, nur ein klitzekleiner Abglanz dessen war, was die göttliche Freude selbst ausmachte. Ich konnte mir das zwar überhaupt nicht vorstellen, weil es mich ja in Kikis Schoß vor Lust schon fast zerrissen hatte, aber wenn Big Daddy das sagte, dann war es wohl so. Zweitens wurde mir klar, dass Kiki und ich beide gespaltene Persönlichkeiten waren. Wir hatten beide noch nicht zu uns selber gefunden, sondern lavierten in einer Art Eiertanz um unser eigentliches Ich herum, als trauten wir uns nicht, wir selber zu sein. Und immer, wenn es einer von uns gerade versuchte, war der andere gerade wieder auf Eiertanz-Tour und sorgte dafür, dass man nicht einlochen konnte. Ich sah das so richtig vor mir, als die letzte Episode mit Kiki nochmal im Schnelldurchlauf an mir vorbeirauschte. Aus der sicheren Distanz nahm sich das sogar ziemlich witzig aus und erinnerte mich ein bisschen an Charlie-Chaplin-Filme mit Slapstick-Szenen und so, und ich vermutete, dass die im Himmel einfach mal ordentlich Spaß haben wollten, wenn sie so was inszenierten.

So komisch es klingen mag, es half mir irgendwie trotzdem dabei, einen Sinn in der ganzen Geschichte zu sehen. Dieser Eiertanz war ein Tanz um eine Mitte, die etwas Gutes darstellte. Ich musste nur noch hineinfinden in diese Mitte.

 

Das war es in Kürze, was Big Daddy mir mitteilte. Er sprach fast bloß in Bildern zu mir. Aber die Bilder blieben besser haften als Eierschlotze am Tischtuch. Ich war eigentlich ziemlich happy, als ich zurückkam. Ich hatte glaube ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, dass es wirklich wo lang ging, auch wenn sich das hier unten nicht so ausnahm. Big Daddy hatte sich wohl ernsthaft was dabei gedacht, als er uns auf die Spur setzte.

 

"Wizard", von Brigitte Perzl

 

 

Kapitel 28: Ein Freak in der Hölle

 

Ich pennte ungefähr drei Tage durch. Drei Tage und Nächte. Die meiste Zeit davon verbrachte ich in der Unterwelt. Da, wo die armen Seelen hinkommen, die keine Chance auf Erlösung mehr haben.

Ich begegnete dort vielen elenden Gestalten. Manche waren sogar noch elender dran als ich. Alle hatte irgendetwas Großes vermasselt, was sich nicht mehr rückgängig machen ließ. Wie ich. Und alle waren des einzigen beraubt, was ihnen hätte helfen können: Der Hoffnung. Der Hoffnung, dass sie es irgendwie und irgendwann wieder gut machen konnten. Der Hoffnung, dass sie eine zweite Chance bekämen. Oder eine dritte. Oder eine vierte. Oder die siebenundsiebzigste.

Sie sagten, es sei meine Schuld. Und sie fluchten mich an, bespuckten mich und warfen mit glühenden Kohlen nach mir.

 

Dann war ich bei Luzifer gewesen. Bei Luzifer, dem armen Schwein, der wirklich alles verbockt hatte. Der allen die Chose eingebrockt hatte. Und jetzt war niemand da, der die Suppe wieder auslöffelte.

Jesus war nicht gekommen. Jesus hatte anderes zu tun. Er musste sich um die Menschen kümmern, die noch eine Chance hatten. Nicht um die Abgekackten, denen niemand mehr helfen konnte. Die die Höchststrafe gekriegt hatten. 

Luzifer war wirklich nicht zu beneiden. Er war sogar noch viel elender dran als alle anderen. Obwohl das im Endeffekt keinen Unterschied machte. Denn die Höchststrafe war nicht wirklich zu toppen. Ewig blieb ewig. Wer die Höchststrafe hatte, hatte auf immerverschissen.

 

Luzifer war alt geworden. Alt, grau und verschlissen. Er sah aus wie ein Hobo, der beim Trampen ein paarmal unter statt auf den Güterzug geraten war.

Als er mich erkannte, wurde er ziemlich böse. Obwohl er schon das absolut Böse war, wurde er noch böser.

„Bist du der Drecksack, der uns alles vermasselt hat?“

Ich nickte betreten.

„Was ist dir denn da für ein Geistesblitz gekommen? Ist dir eigentlich klar, was du uns da eingebrockt hast?“

Ich sagte ihm, dass mir das gerade erst klar würde. Und dass es mir leidtäte.

„Leid? Dir tut es leid?“ Er stimmte ein Lachen an, dass die ganze Hölle davon wiederhallte. „Das nützt uns bloß nichts mehr. Hier unten schert sich keiner mehr einen Scheiß drum, was wir tun. Ob wir beten oder fluchen ist einerlei, verstehst du? Man hat uns aufgegeben! Abgeschrieben wie einen Sack voll Scheiße! Denn du hast uns das Letzte genommen, was wir noch hatten – das Fitzelchen Hoffnung!“

Ich wollte Luzifer antworten, es gäbe ja vielleicht doch noch Hoffnung, aber dann fiel mir ein, dass ja auch ich es diesmal endgültig verbockt hatte. Es gab keine Gnade mehr für mich. Ich hatte es einmal zu oft verkackt. Irgendwann war sogar die göttliche Geduld zu Ende.

„Sorry, Luzifer“, sagte ich, „in meinem nächsten Leben wird alles anders. Da werde ich kein Freak mehr. Dann habe ich alle Chancen der Welt. Dann wird auch hier unten alles besser.“

Luzifer wurde fuchsteufelswild.

„Nächstes Leben? Neue Chance? Was quatscht du denn da für einen Schrott? Weißt du denn nicht, dass das olle Kamellen sind aus der Zeit, als man noch an den Weihnachtsmann glaubte? Es ist aus! AusAus! Und jetztverpiss dich, bevor ich Hacksteak aus dir mache!“

Und ich tat lieber, was er sagte, bevor er tat, was er sagte.

 

Als ich aufwachte, war mir zwar nicht mehr so übel wie da unten bei den Elendsten der Elenden, aber ich fühlte mich auch nicht wie Zuhause. Ich hatte das Gefühl, ich sei auf einem fernen Planeten, weit weg von daheim. Weit weg von den Menschen und jeglicher Zivilisa­tion. Und von J-lo.

Ich war auf dem Einsamkeits- oder dem Du-hast-alles-vergeigt-Planeten gelandet. Sein anderer Name war Freakworld, denn es gab dort nur so seltsame Typen wie mich. Die nichts aus ihren Fehlern lernten und immer wieder in den gleichen Fettnäpfchen landeten.

Dieser Planet war nicht viel besser als die Hölle.

 

 

 

Kapitel 33: Jesus und Konyas Freaks

 

Da stand ich also vor Jesus und wusste nicht, was ich sagen sollte. „Namasté“ hätte er vielleicht missverstanden, weil er ja kein Buddhist war, und „Grüß Gott“ kam mir ein bisschen doof vor, denn Jesus war ja eigentlich selber Gott. Also hielt ich einfach den Mund. Das war auch besser so, denn Jesus begann jetzt mit seinem Blick zu sprechen. Der sagte pro Sekunde mehr, als es tausend Worte gekonnt hätten. Kann also gut sein, dass ich beim Dolmetschen ein bisschen hinterher hinke und nicht alles ganz so rüberbringe.

Er begrüßte mich erst mal, aber so, wie ich noch nie in meinem Leben begrüßt worden bin. Jesus begrüßte mich wie einen Sohn - so als hätte er mich persönlich hochgepäppelt, sähe mich nach langer Zeit zum ersten Mal wieder und wäre jetzt mächtig stolz auf mich. Er freute sich riesig, das sah man ihm an, und es war kein bisschen gespielt, das könnt ihr mir glauben. Bei Jesus war überhaupt nichts gespielt; der Typ war so waschecht wie Zahnseide. Das Komische war, ich genierte mich nicht mal dafür, sondern konnte es ohne weiteres annehmen, obwohl ich doch vor Jesus so viel zu verstecken gehabt hätte. Aber vor Jesus konnte man nichts verstecken, das war mir vom ersten Moment an klar; und weil das so war, und er mich trotzdem voll annahm, so wie ich war, genierte ich mich kein bisschen, sondern freute mich sogar mit ihm. Ja, ihr habt richtig gehört – ich freute mich darüber, dass es mich gab!

Das war die erste Lektion, die ich erteilt bekam, wenn man überhaupt von Lektionen sprechen kann, denn ich hatte nie das Gefühl, dass Jesus mich belehren wollte. Eher munterte er mich auf.

Ich mag dich so, wie du bist, Kumpel. Also zier dich nicht so. Akzeptier dich einfach. Fang an, dich selber zu mögen!

Natürlich blieben Jesus die ganzen Freaks in mir drin nicht verborgen. Aber er nahm sie offenbar nicht ganz so ernst wie ich. Über einige schien er eher amüsiert zu sein. Über andere war er allerdings schon ein bisschen pikiert.

Junge, du musst deinen Dickmann besser unter Kontrolle bringen. Die Mädels führen dich sonst an der Nase herum und du verlierst das, worum es wirklich geht, aus den Augen!

Ich nehme einfach mal an, dass der gute alte Jesus damit nicht Sex meinte.

Für manche hatte er auch eine Erklärung. Jesus war ein Top-Psychologe. Er konnte einem die schwierigsten Sachen so erklären, dass sie einem total easy erschienen und man fast meinte, man hätte alles von selber geschnallt. Zu meinem Dauerthema „Null-Nummer-Freak“ ließ er zum Beispiel Folgendes vom Stapel:

Das kommt davon, wenn du dich die ganze Zeit kleinredest und nicht zu deinem wahren Selbst stehst. Das sind lauter Schattengewächse, Ersatz-Ichs, mit denen du das kompensierst, was dir abgeht: Selbstvertrauen. Vertrau darauf, dass du alles in dir hast, was du brauchst, um ein Gotteskrieger zu werden.

Ja, ihr habt richtig gehört: Jesus sagte wirklichGotteskrieger. Obwohl alle mit Jesus immer das Peace-Zeichen verbinden und die Friedensbotschaft, sagte Jesus zu mir, ich solle ein Krieger werden. Natürlich meinte er damit keinen richtigen Krieger, sondern einen von denen, die im Namen der Liebe gegen das Böse kämpfen, so etwa wie die „Krieger des Lichts“ in dem Song von Silbermond.

 

Kapitel 34: Gespräch mit Jule über die „Freaks“

 

Am Wandertag machten wir einen Ausflug mit dem Bus in die Heide, und ich kam bei der Rückfahrt neben Jule zu sitzen. Es war das erste Mal seit längerer Zeit, dass ich ungestört mit ihr quatschen konnte. Jule hatte ihre Haare zu Zöpfen geflochten. Mit ihrer hohen Stirn, ihren eisblauen Augen und ihrem langen Hals sah sie aus wie die Heidekönigin. Wir redeten über alles Mögliche, und ich stellte ziemlich erstaunt fest, dass Jule und ich in Vielem die gleiche Wellenlänge hatten, und das, obwohl sie doch im Gegensatz zu mir gar kein Freak war. Sie liebte den Tanz und das Theater, mochte die gleichen Bücher wie ich und fand meine Nacharbeit bei Hanna, die „Teufelsgeschichte“, wie sie es nannte, einfach umwerfend. Ich erzählte ihr dann, um sie auf den Boden der Tatsachen zu bringen, in Andeutungen von den Freaks, die ich mit mir herumschleppte, aber Jule meinte, es sei doch normal, in der einen oder anderen Weise freakig zu sein. Jeder habe irgendwo seine Macken und Kanten. Die Kunst sei, sich mit seinen Freaks zu arrangieren und sie vielleicht sogar nützlich zu machen. Manchmal sei der Freak in uns nur eine unterdrückte Charakterstärke oder sogar ein verborgenes Talent. Jule verriet mir dann, dass sie lange Jahre unter Minderwertigkeitskomplexen gelitten und sich sogar für hässlich gehalten habe, bis sie irgendwann merkte, dass sie sich da was einredete, was sie blockierte. Und in dem Moment war sie plötzlich offen für die anderen und merkte, dass die gar nicht so über sie dachten, wie sie gedacht hatte.

Das haute mich um. Jule, das schönste weibliche Wesen der westlichen Hemisphäre, hatte sich für hässlich gehalten. Ich fasste es nicht und sagte ihr das auch.

„Das ist krass, Jule. Das ist so krass, dass ich dir das nicht abnehme.“

„Was?“, fragte Jule, „was findest du so krass daran?“

„Dass ein Himmelsgeschöpf wie du unter Minderwertigkeitskomplexen leidet. Bei deinem Aussehen!“

Jule sah mich erstaunt an.

„Danke für das Himmelsgeschöpf. Aber findest du wirklich, ich bin hübsch?“

Wollte sie mich eigentlich verarschen? Ich schüttelte nur den Kopf.

„Hübsch? Das ist nicht das richtige Wort. Du bist schön, Jule. Du bist sogar bildschön.“

Jule war tatsächlich rot geworden.

„Du solltest so was nicht sagen, wenn du es nicht ernst meinst, Koko.“

„Ich meine es ernst, Jule. Du bist wunderschön. Tu bloß nicht so, als ob du das nicht wüsstest.“

Jule hatte die Augen geschlossen. Ich weiß nicht was mich ritt, aber da ich gerade mal so schön am Baggern war, setzte ich noch eins drauf.

„Das Beste aber ist, dass du auch inwendig schön bist, Jule. Du bist eine schöne Seele. An dir ist ein Engel verloren gegangen.“

Zwei Tränchen kullerten links und rechts über Jules Backen. Das wäre eigentlich der Moment gewesen, wo ich sie hätte küssen müssen. Aber ich Idiot verpasste den Moment. Ich brachte es einfach nicht über mich. Zu dem Zeitpunkt dachte ich immer noch, dass es vielleicht mit Hanna weitergehen würde. Genau darum hatte ich Jule gegenüber so frei reden können. Ich fühlte mich ihr gegenüber zu nichts verpflichtet. 

„Und was ist mit dir?“, fragte Jule, nachdem sie sich die Backen abgewischt hatte.

Wie was ist mit mir?“

„Weißt du, was für ein guter Mensch du bist?“

Spinnst du?“

„Siehst du, obwohl du es bei anderen Leuten merkst, kapierst du gar nicht, dass du genau dasselbe machst. Du bist kein Freak, Konya, du redest dir den Freak bloß ein.“

Ich lächelte. Jules Versuch, mir auf diese Weise meine Abartigkeiten auszureden, war gutgemeint, aber völlig naiv. Die Vorstellung, dass meine Freaks, die mehr oder weniger das Kommando über mich hatten, nur Phantasievorstellungen sein sollten, fand ich drollig, mehr aber auch nicht. Jule hatte keine Ahnung, wer ich wirklich war. Es war wohl besser, ich baggerte sie nicht weiter an, bevor es ihr so erging wie der armen Angela.

„Ich glaube, dir fehlt ein Mädchen, das dir zeigt, wo´s langgeht“, meinte Jule dann. „Hast du denn Kiki schon zu unserer Aufführung eingeladen?“

Diesmal war ich es, der rot wurde.

„Kiki? Wie kommst du denn auf die?“

„Ach, nur so. Sie hätte die nötige starke Hand. Und immerhin warst du doch mal ihr Loverboy, oder?“

Was war bloß plötzlich in Jule gefahren? Wollte sie mir meinen Glauben an ihre schöne Seele austreiben?

„Ich denke, du siehst die Dinge im falschen Licht. Ich weiß ja nicht, was Kiki dir erzählt hat, aber ihr Loverboy war ich sicher nicht.“

Jule lächelte.

„Ich weiß. Du warst bloß ihr Hündchen. Und ich weiß auch, warum sie dich dazu degradiert hat.“

Jule sagte das in einem ziemlich schnippischen Ton, der mich an Kiki erinnerte.   

„So? Das weißt du?“

„Ich weiß alles, Koko. Und ich fand es irgendwie schmeichelhaft, auf diese Weise zu erfahren, dass du es eigentlich lieber mit mir das erste Mal gemacht hättest.“

Ich schloss die Augen wie Jule vorhin. Ich hätte heulen können, aber nicht aus Entzücken. Jule wusste also auch darüber Bescheid. Wie peinlich war das denn. Als ich wieder halbwegs auf dem Damm war, sagte ich:

„Kiki hat dir aber wahrscheinlich nicht erzählt, dass sie mich vergewaltigt hat.“

Jule ließ ihr Turbo-Lachen hören. Jule konnte lachen, dass die Wände wackelten.

„Kann ein Mädchen einen Jungen vergewaltigen, der das nicht will? Das schafft nicht mal Kiki!“

Ich musste ihr zerknirscht Recht geben.

„Siehst du, Jule, genau das ist der Freak in mir.“

Jule sah mich halb mitleidig, halb belustigt an, drückte mir einen Kuss auf die Stirn und flüsterte mir dann ins Ohr:

„Diesen Freak würde ich ganz gern mal näher kennen lernen, Koko.“

Ich dachte nur, lieber nicht, Jule. Und ich dachte, was für ein wundervolles Mädchen. Schade nur, dass sie zu gut für mich ist. Viel zu gut.

 

 

Kapitel 40: Versöhnung mit den Freaks

 

O.k. Leute, das war´s eigentlich schon. Weiter gibt es im Moment nicht viel mehr zu erzählen. An der Theaterschule bin ich immer noch und Rod hat Recht gehabt. Wenn meine Freaks täglich ein bisschen Auslauf haben und ihr Eigenleben führen dürfen, kann ich auch mal ich selbst sein. Wirklich ich selbst. Und dann besuche ich die kleine Julia und nehme sie mit raus auf den Spielplatz oder in den Zoo oder sonst wohin. Sie ist jetzt schon fast zwei Jahre alt und wird ihrer Mutter immer ähnlicher. Es ist eigentlich egal, wo ich mit Julia bin, mit ihr bin ich immer genau da, wo ich eigentlich sein will. So wie damals, als ich auf dem Schoß von ihrer Mama einschlief. Oder als ich mit Jule am Seil hing und wir uns küssten.

Karoline Scholl "Underworld"
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